„Politische Korrektheit ist unglaublich dumm“
Interview Seit „Underground Railroad“ist Colson Whitehead ein Star. Er spricht über sein neues Buch, Rassismus und Ängste
Mr. Whitehead, Sie tragen ein T-Shirt mit der Aufschrift „Welcome to Fear City“. Wie darf man das verstehen?
Colson Whitehead: Das geht zurück auf eine Polizei-Kampagne im New York der 70er. Die Gewerkschaft war aufgebracht, weil sie nicht genügend Unterstützung vonseiten des Bürgermeisters hatte, und ließ Broschüren nach diesem Motto drucken, um die Touristen zu erschrecken.
Sie wuchsen in New York auf, wo ja auch Ihr neuer Roman „Harlem Shuffle“spielt. Wie haben Sie das damals erlebt? Whitehead: Als eine dreckige, gewalttätige Stadt. Das war die vorherrschende Stimmung. Du hast da ein richtiges Überlebenstraining bekommen: Halt deinen Geldbeutel dicht bei dir. Wenn du in der U-Bahn bist, nimm nicht deine Tasche hoch. Das alles ist mir noch eingeimpft, auch wenn es dann ab Mitte der 90er in New York das große Saubermachen gab. Und ich sehe jetzt voller Verwunderung, dass Leute nachts im Central Park joggen gehen. Das sind Newcomer, die keine Ahnung von dieser Stadt haben. Ich kann da nur mit dem Kopf schütteln. Aber ich bin und bleibe New Yorker. Ich habe mal in San Francisco gewohnt, und nach einem halben Jahr wollte ich schon wieder zurück.
Wenn man in so einer Umgebung aufwächst, beginnt man da das Leben mit einer gewissen Skepsis zu sehen?
Whitehead: Nein, man hat das einfach als gegeben hingenommen. Ich bin ein Pessimist, aber nicht wegen meiner New Yorker Erfahrungen.
Warum sind Sie ein Pessimist? Whitehead: Auf der ganzen Welt ist die faschistische und rechtsradikale Demagogie im Aufwind, wir haben die globale Erwärmung, eine schlecht gemanagte Pandemie, die unglaublich viele Tote gekostet hat, keine Beschränkung des Waffenbesitzes – es gibt genügend Dinge, die einen pessimistisch stimmen.
So gesehen könnte man Ihren neuen Roman als eine Art Flucht aus dieser bedrückenden Gegenwart interpretieren, denn das Gangstermilieu Harlems, das er schildert, ist im Vergleich dazu ein beschwingtes Gegenbild. Whitehead: Meine Bücher hatten immer eine unterschiedliche Orientierung. Es gibt welche voller Humor und Satire, und andere decken sich mit meiner pessimistischen Weltsicht. Ich ziehe eben verschiedene Register. Die vorangegangenen Romane „Underground Railroad“und „Nickel Boys“waren sehr bitter und düster, und sobald ich dann die „Harlem Shuffle“schrieb, fühlte ich mich sofort befreit und hatte mehr Spaß.
Im Zentrum steht ein großer Einbruchdiebstahl. Lässt sich die Arbeit eines Einbrechers mit der eines Schriftstellers vergleichen? Whitehead: Insofern, als ich mein Buch ebenso planen muss wie ein Einbrecher seinen Raub. Ich muss an verschiedene Variablen denken, mögliche Schwächen des Plans berücksichtigen und meine ganze Konzentration aufbringen.
Das heißt, Sie legen den Ablauf Ihres Romans
minutiös fest und habe volle Kontrolle über Ihre Charaktere? Nicht jeder Schriftsteller geht so vor…
Whitehead: Ich bin ein großer Planer, ich mag dieses Konzept „Meine Charaktere unterhalten sich mit mir“nicht. Wenn ich anfange, dann kenne ich meine Figuren und ihre Sprechweise. Aber ich weiß nicht alles im Vorhinein. Im Fall von „Harlem Shuffle“kannte ich den Anfang und das genaue Ende, aber bei Mittelteil war noch einiges unklar. Und ich halte nichts davon, alles im Detail festzulegen. Ich habe Romane zu genau konzipiert und dann machte mir das Ganze keinen Spaß mehr. Warum soll ich das alles noch ausformulieren, wenn es schon kenne? Es gibt dann kein Geheimnis mehr.
Inwieweit helfen Ihnen Ihre Bücher, einen persönlichen Sinn in der Welt zu entdecken? Whitehead: Das hängt vom Roman ab. „Underground Railroad“hat mir geholfen, die Zusammenhänge zwischen Kapitalismus, Sklaverei und Imperialismus klarer zu sehen. „Sag Harbor“war ein sehr persönliches Buch, in dem ich meine Kindheit dekonstruiert habe, um zu sehen, wie sich diese erwachsene Version von Colson daraus entwickelt hat.
Verstehen Sie jetzt, wer Colson Whitehead ist?
Whitehead: Nein, denn das Buch entstand, als ich 39 war. Und es reflektiert meine damalige Sicht auf mich selbst. Heute ist sie anders. Identität verändert sich ständig. Vermutlich werde ich erst auf meinem Totenbett begreifen, wer ich bin, und dann kippe ich aus den Socken. Seine Identität zu finden, ist wie ein IkeaMöbelstück aufzubauen. Erst steckst du die Schrauben in die falschen Löcher, bis du endlich alles kapiert hast und dann steht das Teil und du musst das nie wieder machen, denn es ist vorbei.
Gibt es denn nicht einen festen Kern Ihrer Identität, der sich nie ändert? Whitehead: Du erfindest dich alle zwei Jahre neu. Ähnlich wie ich über meine Stadt denke, so denke ich auch über mich selbst. Du kommst da an einem Haus vorbei, in dem früher ein Schuhladen war, und jetzt ist das ein Kino. Die Erinnerung an den Schuhladen ist immer noch wichtig und real für dich, auch wenn sich da jetzt ein anderes Geschäft befindet. All die früheren Versionen meines Selbst sind in mir noch erhalten und zusammen belegen sie den gleichen Platz.
Ist in Ihrem jetzigen Selbst der besagte Pessimismus ausgeprägter als in Ihrem früheren?
Whitehead: Als Teenager dachte ich, dass jeden Moment ein Atomkrieg ausbrechen könnte. So gesehen war meine Weltsicht wesentlich fatalistischer. Im letzten Sommer wiederum, als kein Ende der Pandemie abzusehen war und man befürchten musste, dass Donald Trump wiedergewählt wird, waren mein Pessimismus und Zynismus wieder stärker. Es sind also Dinge außerhalb meiner Kontrolle, die mein Lebensgefühl herauf- und herunterdimmen.
Angeblich mögen Sie es, der Realität zu entkommen, indem Sie Videogames spielen. Ist das richtig?
Whitehead: Das ist korrekt. Die helfen mir einfach, die Zeit totzuschlagen. Ich spiele, wenn ich nichts Besseres zu tun habe und mein Gehirn abschalten muss. Ich habe das jahrelang nicht gemacht, aber dann kam mein erster Sohn auf die Welt. Er war ein Frühchen und er konnte in den ersten Monaten nur schlafen, wenn man ihn in den Armen hielt. Ich hatte bei uns die Nachtschicht zwischen zwei und vier, denn meine Frau hat einen richtigen Job im Gegensatz zu mir. Zuerst schaute ich ziemlich viel schlechtes Fernsehen, aber dann stieß ich auf „Angry Birds“, und so landete ich wieder bei den Games.
Stimmen Sie eigentlich Martin Luther King zu, dass sich der „Bogen des moralischen Universums zur Gerechtigkeit neigt“? Oder ist diese Sicht zu naiv?
Whitehead: Nein, ich denke, er biegt sich. Aber er tut das so langsam, dass man das letztliche Ziel aus den Augen verliert. Die aktuellen Probleme – ob die globale Erwärmung oder der tief verankerte Rassismus in unserer Kultur – werden sicher nicht zu meinen Lebzeiten gelöst werden. Und es gibt immer wieder Rückschritte. In diesem Sommer versuchten die Republikaner in einigen Südstaaten das Thema der Sklaverei aus dem Unterricht in Grundschulen zu verbannen. Es durfte nicht einmal erwähnt werden. Es gibt noch viele Leute, die alles daransetzen, den Fortschritt aufzuhalten.
Gleichzeitig bewegt sich sehr viel in Sachen gesellschaftlicher Sensibilitäten. Was halten Sie von der neuen Kultur der „Wokeness“? Whitehead: Ich halte sie für unglaublich dumm. Schon als ich im College war, habe ich diese Welle an politischer Korrektheit erlebt, als unter anderem wütende Feministinnen den Literaturkanon attackierten. Man wollte sogar Shakespeare daraus entfernen. Diese ganzen Argumente erinnern mich an meine jungen Jahre. Sie werden vielleicht mit größerer
Lautstärke vorgetragen als damals, weil unsere Gesellschaft polarisierter ist. Aber dieselbe Stupidität war schon immer da.
Sie hatten ja vor dem Gespräch darum gebeten, sich nicht zum Thema Rassismus zu äußern. Sind Ihre Erfahrungen denn mit Interviews zu diesem Thema so schlecht? Whitehead: Ich sage es so: Länder mit kolonialer Vergangenheit sind ethnisch diverser, und deshalb fühle ich mich dort wohler, und die Fragen sind weniger merkwürdig. Aber Länder wie beispielsweise Dänemark, Polen oder Deutschland haben die Aufarbeitung dieses Themas noch nicht abgeschlossen. Ein polnischer Kulturkritiker meinte zum Beispiel einmal zu mir, dass Tarantinos „Django Unchained“eine Dokumentation über die Sklaverei sei. Für mich gilt die Faustregel: Je weißer das Land, desto seltsamer die Fragen.
Um noch mal auf Ihr T-Shirt zurückzukommen: Haben Sie Ängste?
Whitehead: Momentan bin ich sehr ruhig. Ich habe angefangen, Fitness zu machen und zu meditieren. Und die Lage sieht nicht mehr so trostlos aus wie vor einem Jahr. Jetzt habe ich meinen Roman beendet, sitze gerade an der Fortsetzung, ich bin geimpft und wir haben einen anderen Präsidenten als Donald Trump. Doch es gibt noch viel Arbeit zu tun.