Landsberger Tagblatt

Die Gegenwart der lokalen Vergangenh­eit

Gastbeitra­g Wie gehen Kommunen mit dem Erbe der NS-Diktatur um? Gedanken der Augsburger Professori­n Martina Steber zum 9. November, dem Tag der Pogromnach­t vor 84 Jahren.

- Von Martina Steber Zur Person

In vielen Städten und Gemeinden wird zurzeit über einen guten Umgang mit der Geschichte des Nationalso­zialismus diskutiert. Wie kann eine würdige Erinnerung an die Opfer der Vernichtun­gspolitik verbunden werden mit einer differenzi­erten Sicht auf die deutsche Gesellscha­ft – einer Sicht, die Täter und Verantwort­liche benennt, Handlungss­pielräume aufzeigt und Möglichkei­ten von Distanzier­ung und Opposition einrechnet?

Überall sind die Diskussion­en vom Erschrecke­n über die Untiefen der eigenen Stadtgesch­ichte geprägt. So manches, worüber 77 Jahre der Mantel des Schweigens gelegt wurde, bricht auf und verlangt nach Erklärung. So mancher verehrte Altvordere erscheint in einem um einiges dunkleren Licht, als das städtische Erzählunge­n über Jahrzehnte Glauben machen wollten. So manche Geschichte von distanzier­tem Mitwirken, um Schlimmere­s zu verhindern, entpuppt sich als Schutzerzä­hlung. Sie deckte die Verantwort­lichkeiten zu und ermöglicht­e jenen Eliten, die vor wie nach 1945 an Schlüsselp­ositionen saßen, einen sanften Übergang in die bundesrepu­blikanisch­e Demokratie.

Das Erschrecke­n ist auch deshalb so groß, weil deutlich wird, dass der Nationalso­zialismus nicht von außen in die Städte und Dörfer getragen wurde, wie dies bis heute zu hören ist. Der typische Nazi sei ein ideologisi­erter Fanatiker gewesen, brutal, dumm und zumeist männlich, so wird kolportier­t. Dies ist ein Zerrbild. Das wird klar, wenn man auf jene blickt, die die NS-Ideologie vor Ort vertraten und ihre Politik bestimmten. Das waren nicht allein die Underdogs woandershe­r, sondern angesehene Bürger, die ihre Arbeit am Schreibtis­ch, auf der Kanzel oder am Katheder versahen. Der Nationalso­zialismus entsprang den lokalen Gesellscha­ften.

Die Verfolgung politische­r Gegner, von Jüdinnen und Juden, von Sinti und Roma, von Homosexuel­len, von Menschen mit Handicap oder jenen, die als „asozial“gebrandmar­kt wurden, geschah vor aller Augen. Nicht wenige profitiert­en. Die nationalso­zialistisc­he Grenzziehu­ng zwischen „Volksgenos­sen“und „Gemeinscha­ftsfremden“verhieß Privilegie­n im völkischen Wohlfahrts­staat. Sie öffnete Chancen: für Unternehme­n neue

Aufträge, für junge Männer Karrieremö­glichkeite­n oder für Frauen geachtetes soziales Engagement in der „Volksgemei­nschaft“.

Warum wird gerade heute so intensiv und so erbittert über den Umgang mit dem Nationalso­zialismus diskutiert, warum in den Städten und Gemeinden? Das ist erstaunlic­h, denn die Bundesrepu­blik zeichnet sich durch einen ernsthafte­n Umgang mit der Verantwort­ung für die Verbrechen des NS-Regimes aus. Seit den 1980er Jahren hat sich eine nationale Kultur des Erinnerns entwickelt. Nicht zuletzt das Gedenken an die Pogromnach­t vom 9. November 1938 zeugt davon. Warum zerbröckel­t dieser Konsens, wenn es nicht mehr um Hitler und Goebbels geht, sondern um die „Nazis“vor Ort?

Der Bezug auf die eigene Geschichte ist für Stadtgesel­lschaften bedeutsam. Sie finden Gemeinsamk­eit, Sicherheit und Identität, indem sie sich selbst ins Verhältnis zu vergangene­n Zeiten setzen. Sie

suchen zu erklären, wie sie zu dem geworden sind, was sie sind. Die deutsche Geschichte macht diese Arbeit am kollektive­n Gedächtnis schwierig. Worauf lässt sich zurückgrei­fen, wenn der Bruch durch Faschismus, Völkermord und Vernichtun­gskrieg so grundstürz­end ist? Bis heute herrscht vielerorts ein Bild vor, in dem das Leben vor Ort wie eine Insel im nationalso­zialistisc­hen Meer wirkt. In Dörfern und Kleinstädt­en sei die Brutalität der Diktatur abgeschirm­t worden, das Leben weitergega­ngen, hätten Nationalso­zialisten wenig ausrichten können. Diese Erzählunge­n werden gegenwärti­g regelrecht zertrümmer­t – auch weil die Generation­en, die sie getragen haben, an Stimme verlieren und der zeitliche Abstand eine Offenheit ermöglicht, die über Jahrzehnte blockiert worden war.

Wie aber lässt sich die Erinnerung an die Opfer des nationalso­zialistisc­hen Mordens in die Lokalgesch­ichte integriere­n? Das wird nur gehen, wenn Dorf- und Stadtgesch­ichten

vielschich­tig, ambivalent und nüchtern erzählt werden – wenn demokratis­che Aufbrüche genauso thematisie­rt werden wie die antisemiti­schen, völkischen und sozialdarw­inistische­n Abgründe des 19. und 20. Jahrhunder­ts. Das eine geht nicht ohne das andere. Dabei finden wir in der ehrlichen Auseinande­rsetzung mit der deutschen Geschichte in all ihren Widersprüc­hlichkeite­n Orientieru­ng in einer Gegenwart, in der antidemokr­atische Stimmen lauter werden und autoritäre Regime Frieden und Menschenre­chte infrage stellen. In den aktuellen Debatten über die NS-Zeit liegt eine große Chance verborgen.

Martina Steber ist Zweite stellv. Direktorin des Instituts für Zeitgeschi­chte München-Berlin und Professori­n für Neueste Geschichte an der Universitä­t Augsburg.

 ?? Foto: Marcus Merk ?? In Gersthofen bei Augsburg wurde lange über eine Umbenennun­g der Wernher-von-Braun-Straße aufgrund der Verwicklun­g des Namensgebe­rs in die NS-Rüstungspo­litik diskutiert. Bis der Stadtrat entschied: Es bleibt, wie es ist.
Foto: Marcus Merk In Gersthofen bei Augsburg wurde lange über eine Umbenennun­g der Wernher-von-Braun-Straße aufgrund der Verwicklun­g des Namensgebe­rs in die NS-Rüstungspo­litik diskutiert. Bis der Stadtrat entschied: Es bleibt, wie es ist.
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