Eugen Ruge: Metropol (86)
In der Druckerei behandelt man sie wie eine Idiotin, weil sie den Unterschied zwischen Satzspiegel und Buchsatzspiegel nicht kennt oder die Anzahl der Zeichen pro Druckbogen nicht errechnen kann. Auch Loni Neumann behandelt sie auf einmal feindselig – als hätte sie persönlich Inge Karst angeschmiert. Abends schläft sie schlecht ein, führt im Geiste die Diskussionen mit Nowikow weiter oder versucht, ein passendes Papierformat zu ermitteln. Nachts träumt sie von Zahlen: zweiundachtzig mal einhundertzehn, eins zu zweiunddreißig. Siebzehntausendeinhundert Exemplare sollen gedruckt werden, eine beängstigend hohe Auflage. Im Traum werden alle siebzehntausend Exemplare makuliert, weil in einem Stalin-Zitat ein Komma fehlt. Am Ende einer langen Druckmaschine steht Inge Karst, den wächsernen Glanz im Gesicht, und jammert. Charlotte erwacht, aber das Jammern ist immer noch zu hören. Es kommt von draußen, vom Hotelflur. Es ist eine Frau. Eine Männerstimme versucht, sie zu beruhigen. Andere bellen dazwischen. Dann Stiefelgetrappel. Dann ist nur noch ein leises Winseln zu hören, das bis in den Morgen anhält.
Am nächsten Tag ist eins der beiden Zimmer der Familie Weger versiegelt. Es stellt sich heraus, dass das Politbüromitglied Jewgeni Weger verhaftet worden ist. Und von diesem Tag an sitzt seine Frau, jene junge schlanke Dame, die mit ihren Kindern Französisch spricht und an den Nachmittagen Klavier zu spielen pflegt, jede Nacht im Bojarensaal und weint. Vielleicht geht sie extra in den Bojarensaal, weil sie ihre Kinder verschonen will. Jedenfalls ist nun jede Nacht ihr Wimmern zu hören. Heulen, Jammern, manchmal einzelne Silben. Dann wieder Stille. Und Charlotte liegt mit offenen Augen im Bett und wartet darauf, dass es wieder anfängt …
Morgens geht sie unausgeschlafen zur Arbeit. Sie erleidet schon vormittags Müdigkeitsanfälle, die Augen fallen ihr zu. Dann wieder ist sie überdreht und nervös. Vergisst mitten im Gespräch mit Nowikow die nachts zurechtgelegten Argumente. Wenn sie nach Hause kommt, fällt sie in Kleidung aufs Bett und schläft zwei, drei Stunden, bis es im Bojarensaal wieder losgeht mit dem Gewimmer…
Charlotte zieht die Decke über den Kopf, wälzt sich herum, versucht, nicht hinzuhören. Manchmal spricht die Frau minutenlang mit sich selbst. Dann wieder verschleifen die Worte zu einem Winseln, wie das eines geprügelten Hundes. Wie viele Nächte kann das so gehen? Manchmal glaubt Charlotte, ein Lachen zu hören. Oder singt die Frau? Hoffentlich fängt sie nicht noch an, Klavier zu spielen… Der Erscheinungstermin rückt erbarmungslos heran, und Charlotte ist dabei, ihre große Chance zu vertun.
Aber dann passiert zweierlei: Zuerst wird Frau Weger abgeholt. Man habe sie in die Nervenklinik gebracht, heißt es. Charlotte schämt sich für ihre Erleichterung.
Und dann bestellt Bork sie in sein Büro, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Schnell stellt sich heraus, dass sie hoffnungslos im Verzug ist. Charlotte ist auf das Schlimmste gefasst, aber Bork hört sich ihre Probleme und Klagen gelassen an. Er greift zum Telefonhörer, lässt sich mit der Druckerei verbinden. Verlangt den Schichtleiter zu sprechen, über den sich Charlotte beschwert hat, und erklärt dem Mann mit fester
Stimme, er erwarte von ihm, dass er die Genossin Germaine mit Rat und Tat unterstütze. Es handle sich bei der Broschüre um einen außerordentlich wichtigen Beitrag, den ein hochstehender, und zwar ein sehr hochstehender Genosse verfasst habe. Sollte die Broschüre verspätet erscheinen oder mit Fehlern behaftet sein, werde er ihn, den Schichtleiter, persönlich dafür verantwortlich machen.
Dann erklärt er Charlotte den Unterschied zwischen Satzspiegel und Buchsatzspiegel. Gemeinsam rechnen sie die Anzahl der Zeichen pro Bogen aus (einundvierzigtausend) und legen das Papierformat und die Kartonstärke für den geprägten Umschlag fest. Kurz lässt sich Bork die wesentlichen inhaltlichen Streitpunkte zwischen ihr und Nowikow erläutern, stimmt Charlotte dann in allen Fällen zu und ermutigt sie, sich gegen Nowikow durchzusetzen. Er werde ihr in jedem Fall den Rücken stärken.
Zum Schluss beauftragt er eine Archivarin des Verlags mit der
Auffindung der exakten Übersetzungen der Stalin-Zitate, und Charlotte verlässt sein Büro erleichtert und befreit. Zweideutigkeiten oder Anspielungen hat es keine mehr gegeben, Borks Tonfall war kameradschaftlich, aber distanziert. Fast ein bisschen zu distanziert, findet Charlotte. Die letzten Tage vor der Abgabe kommt sie noch mehrmals in sein Büro, um etwas zu erfragen oder Hilfe zu erbitten. Sie ertappt sich dabei, dass sie vorher auf der Toilette ihr Aussehen im Spiegel überprüft. Sie kleidet sich sorgfältiger als sonst. Sie beginnt wieder, Härchen an unwillkommenen Stellen auszuzupfen. Schließlich nimmt sie sogar den Lippenstift mit in den Verlag und trägt vorsichtig etwas Rot auf, aber nur wenig, fast nichts – als könnte das die Sündhaftigkeit mindern. Meist geht sie spät zu Bork, schon nach Feierabend. Gemeinsam lösen sie die letzten Probleme, wählen Schrifttyp und Umbruch für die lange Überschrift aus.