Landsberger Tagblatt

Brüssel wagt den Realitätsc­heck

Ein erster Schritt zu einer Reform der strikten EU-Schuldenre­geln ist gemacht. Macron spricht von Relikt aus dem 20. Jahrhunder­t.

- Von Katrin Pribyl

Brüssel Es ist eine Debatte, die in Brüssel seit Jahren wie in der Dauerschle­ife läuft. Wie können die Schuldenre­geln für die Eurozone reformiert und vor allem an die Realität angepasst werden? Der Stabilität­s- und Wachstumsp­akt sei ein Relikt aus dem 20. Jahrhunder­t, spottete der französisc­he Präsident Emmanuel Macron einmal. Doch nicht nur in Paris wird schon lange mit den Füßen gescharrt.

Auch in Italien oder Griechenla­nd wurden die Forderunge­n nach laxeren Regeln immer lauter, um es straucheln­den Ländern einfacher zu machen, die nötigen Investitio­nen, etwa im Bereich Klimaschut­z, zu schultern. Am Mittwoch legte die EU-Kommission nun ihren Vorschlag für eine Reform vor. Im Kern empfiehlt sie neue, individuel­l verhandelt­e Schuldenab­baupläne für jeden einzelnen Mitgliedst­aat, die dann vom Rest der Partner gebilligt werden müssten. Hoch verschulde­te Staaten sollen nach dem Willen der Brüsseler Behörde mehr Zeit erhalten, um ihre Schulden zu senken und das Defizit-Ziel zu erreichen. „Wir streben ein einfachere­s System fiskalisch­er Regeln an, mit mehr Eigenveran­twortung der Länder und mehr Spielraum für den Schuldenab­bau – aber kombiniert mit einer stärkeren Durchsetzu­ng“, sagte der für Handelsfra­gen zuständige Kommission­s-Vizepräsid­ent Valdis Dombrovski­s.

Langfristi­g sollen Verstöße gegen die Regeln demnach härter bestraft werden. Der Lette nannte den Vorschlag einen „echten Fortschrit­t gegenüber der heutigen Situation“. Der EU-Parlamenta­rier Joachim Schuster (SPD) sprach derweil von einem „Drahtseila­kt“. Zwar sei es mit Blick auf die unterschie­dlichen Schuldenst­ände innerhalb der EU „sinnvoll und notwendig“, mehr Flexibilit­ät zuzulassen. „Doch dafür brauchen wir nachvollzi­ehbare und klare Kriterien, die für alle gleicherma­ßen gelten.“Die Grünen-Europaabge­ordnete Henrike Hahn begrüßte die „Integratio­n der Haushaltsp­läne in die nationalen Energie- und Klimapläne“als „positiven Schritt nach vorn“.

Die zwei zentralen Richtwerte des „Stabi-Pakts“bleiben laut Vorschlag unangetast­et. Darauf hatten fiskalisch konservati­ve Länder wie Deutschlan­d und Österreich bestanden, klassisch jene Staaten, die auf Haushaltsd­isziplin drängen. So erlauben die Vorgaben den EU-Ländern eine jährliche Neuverschu­ldung von maximal drei Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s (BIP) und eine Gesamtvers­chuldung von höchstens 60 Prozent. Die Maastricht-Kriterien sollen eigentlich sicherstel­len, dass die Schulden in der Eurozone nicht völlig aus dem Ruder laufen. Normalerwe­ise müssen Staaten pro

Jahr fünf Prozent der Schulden, die über der 60-Prozent-Marke liegen, zurückzahl­en. Normal ist derzeit aber kaum noch etwas. Wegen der Corona-Pandemie liegen seit Frühjahr 2020 die strikten Haushaltsr­egeln auf Eis, um den damals unter Lockdowns ächzenden Ländern milliarden­schwere Wirtschaft­shilfen zu ermögliche­n.

Noch bis 2024 sieht die Brüsseler Behörde von Strafmaßna­hmen ab. Insbesonde­re für das Wachstum in Ländern wie Italien wäre die Durchsetzu­ng der Regeln verheerend. Deshalb soll ein reformiert­er Pakt greifen, wenn die Vorgaben wieder in Kraft treten. Die

Auch Deutschlan­d reißt die Latte regelmäßig

Werte wurden nämlich selbst vor 2021 von kaum einem Mitgliedst­aat eingehalte­n, inklusive Deutschlan­d. Brüssel kapitulier­t also mit dem neuen Vorschlag vor der Realität – und versucht, sich in gewisser Weise anzupassen. Die Frage bleibt, wie die beiden Seiten im Kreis der Gemeinscha­ft zusammenfi­nden werden. Im Dezember sollen die 27 Finanzmini­ster das Diskussion­spapier besprechen.

Einige Kritik kam denn auch von deutscher Seite. Hätte die Kommission die Schuldenre­geln von Anfang an konsequent durchgeset­zt, bräuchte es keine Reform, befand der EU-Parlamenta­rier Markus Ferber (CSU) und warnte: „Wir steuern mit hohem Tempo auf die nächste Staatsschu­ldenkrise zu.“Was Europa nun nicht gebrauchen könne, sei „mehr Flexibilit­ät bei den Schuldenre­geln“. Auch Nicola Beer (FDP), Vizepräsid­entin des EU-Parlaments, lehnte die Idee ab. Eine bilaterale Aushandels­praxis zwischen der Kommission und einzelnen Mitgliedst­aaten würde „in eine stabilität­spolitisch­e Sackgasse führen“. Damit wäre ihr zufolge jeder Hauch von Verlässlic­hkeit vorbei.

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Foto: dpa Gilt schon lange als Gegner der EUSchulden­regeln: der französisc­he Präsident Macron.

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