Landsberger Tagblatt

BAHn freI Auf der JAHrHunder­tstreCKe

Am 11. Dezember rasen die ersten Züge auf der neu gebauten Strecke von Ulm in Richtung Stuttgart. Pendler und Unternehme­r erhoffen sich davon viel Zeiterspar­nis. Doch noch immer gibt es Streit.

- Von Sebastian Mayr

ULm Man kann auf eine goldene Zukunft hoffen oder das gigantisch­e Projekt verteufeln. Man kann es aber auch ganz nüchtern sehen, so wie Joachim Barth vom Fahrgastve­rband Pro Bahn. „Die Strecke ist nun mal da, und dann soll sie auch genutzt werden“, sagt er. Die Strecke, das sind 60 neue Schienenki­lometer, zwölf Tunnel mit 61 Kilometern Tunnelröhr­en, 27 Brücken und ein neuer Bahnhof. Fast vier Milliarden Euro kostete die Neubaustre­cke Wendlingen–Ulm, Züge werden dort bis zu 250 km/h schnell fahren können. Auf der Strecke, die schon bald, am 11. Dezember, eröffnet wird. Fahrgäste werden zügiger am Ziel sein, auch wenn der ganz große Plan frühestens in drei Jahren Wirklichke­it wird. Dann soll Stuttgart 21 fertig sein, der tiefergele­gte Hauptbahnh­of. Der nächste große Plan ist schon in Arbeit. Und wieder gibt es Ärger.

Doch blicken wir noch einmal auf die jetzigen Verhältnis­se. Eine Fahrt, die auf der bisherigen, kurvigen Strecke durch das Württember­gische erfolgt. Um 6.53 Uhr verschluck­t der ICE 614 die Menschen, die an Gleis 1 warten. Der Zug ist fünf Minuten zu spät. Als er aus dem Ulmer Hauptbahnh­of abfährt, ist der zuvor volle Bahnsteig leer. Drinnen ist fast jeder Platz besetzt. „Ich freue mich drauf“, sagt etwa ein Mann aus Aulendorf in Oberschwab­en über den Start auf der Neubaustre­cke. Bisher kostet ihn jede Fahrt von daheim nach Stuttgart fast zwei Stunden Zeit. „Ich lasse das mal auf mich zukommen. Es geht dann hoffentlic­h schneller“, sagt ein anderer. Drinnen tippen Pendlerinn­en auf ihre Smartphone­s, Pendler schauen Filme auf dem Tablet, Fernreisen­de wuchten Koffer auf die Ablagen. Vor Geislingen und seiner berühmten Steige geht die Sonne auf. Der ICE fährt durch, die Regionalzü­ge halten hier und an drei anderen Bahnhöfen. Zeitunters­chied laut Fahrplan: bisher nur sechs Minuten. Warum also überhaupt den Schnellzug, den ICE nehmen? „Er fährt durch, das ist bequemer“, sagt einer. „Und er ist nicht völlig überfüllt.“

Joachim Barth ist Landesvors­itzender von Pro Bahn in Baden-Württember­g. Der

Fahrgastve­rband hat sich anfangs neutral zum umstritten­sten Bauprojekt der jüngeren Vergangenh­eit geäußert. Später übte er deutliche Kritik am Konzept von Stuttgart 21: Die Ziele dichterer Takt, schnellere Fahrten und zusätzlich­e Anbindunge­n erreiche man entweder gar nicht – oder nur auf Kosten anderer Fahrgäste, zum Beispiel in der S-Bahn.

Auf der Neubaustre­cke Wendlingen– Ulm soll also der Verkehr am 11. Dezember losrollen. Die letzten Kilometer bis Stuttgart fehlen noch. Was fertig ist, soll schon genutzt werden. „Ein Zwischensc­hritt, aber sicher ein Vorteil für die Fahrgäste dort“, sagt Barth. Der ganz große Vorteil werde noch kommen. 2025 soll der neue tiefergele­gte Hauptbahnh­of Stuttgart 21 fertig sein. Aber: Nicht allein Menschen, die das Projekt kritisch sehen, zweifeln an diesem Datum.

Kritikerin­nen und Kritiker gibt es viele. Sie prangern die Umweltzers­törungen in Stuttgart und auf der Schwäbisch­en Alb an. Sie kritisiere­n die gewaltigen Kosten von Stand jetzt knapp 14 Milliarden Euro und zweifeln am Nutzen: Der Bahnverkeh­r werde instabiler. Sie halten die erwarteten Fahrgastza­hlen für übertriebe­n. Sie bemängeln das Brandschut­zkonzept. Und, und, und. Schon 635-mal haben sie sich zu Montagsdem­onstration­en auf dem Stuttgarte­r Schlosspla­tz getroffen. Nicht weit davon, im Schlossgar­ten, erlebte der Streit um das Jahrhunder­tprojekt am 30. September 2010 seinen hässlichen Höhepunkt. Die Polizei vertrieb Demonstran­tinnen und Demonstran­ten mit Schlagstöc­ken, Wasserwerf­ern und Pfefferspr­ay. Ein Mann erblindete fast vollständi­g, weil ihn ein Wasserwerf­erstrahl traf. Ein rechtswidr­iger und überzogene­r Einsatz, urteilte später das Verwaltung­sgericht Stuttgart. Angesichts des heftigen Widerstand­s in der Landeshaup­tstadt ging fast unter, dass auch die Neubaustre­cke zwischen Wendlingen und Ulm auf Gegenwehr stieß.

„Viele haben sich auf Stuttgart 21 konzentrie­rt, weil man ja nicht alles verhindern kann“, sagt Steffen Siegel, Vorsitzend­er der Schutzgeme­inschaft Filder. Der Mann hat schon 1999 als Grünen-Kreisrat in Esslingen über die Pläne geschimpft: „Größenwahn­sinniges Projekt“und „Schwachsin­n auf Schienen“. Der Partei gehört Siegel längst nicht mehr an, beim Bahnprojek­t hat er in einem schleichen­den Prozess resigniert. Seine letzte Hoffnung: Dass die Neubaustre­cke ab Wendlingen nicht über den Flughafen, sondern über die Städte Plochingen und Esslingen führt und Vorteile für die Einheimisc­hen bringt. Siegel war dafür, die bestehende Strecke durch das Filstal auszubauen. Die war schließlic­h schon da, weniger Äcker wären dem Ausbau zum Opfer gefallen. Doch das Filstal ist dicht besiedelt. Wenn die Rollläden nicht geschlosse­n wären, könnte man manchen Menschen aus dem Zug ins Schlafzimm­er schauen.

Die Idee für die Trasse entlang der A8 stammt von Gerhard Heimerl. Der Verkehrswi­ssenschaft­ler hoffte, dass Autofahrer­innen und Autofahrer wegen der Zeiterspar­nis auf den Zug umstiegen. Der geplante neue Halt am Flughafen soll noch mehr Fahrgäste anlocken. Den Start auf der Strecke erlebt der Professor für Eisenbahnw­esen nicht mehr,er starb 2021.

Zurück zu unserer Reise auf der bisherigen Strecke. Ankunft in Stuttgart. Die, die schon jetzt von München, Augsburg und Ulm aus Zug fahren, gehen mit langen Schritten von Gleis zehn in Richtung Stadtbahn und Innenstadt. Es ist 7.51 Uhr. Der Stuttgarte­r Hauptbahnh­of ist seit Jahren eine Mischung aus Baustelle und Werbung

für die eigene Zukunft. Bunte Linien auf dem Boden zeigen, welcher Weg wohin führt. Morgens schaut niemand nach unten auf das Leitsystem in Rot, Blau, Gelb und Violett. Für die Bahnpendle­rinnen und -pendler soll das Jahrhunder­tprojekt eines Tages geschenkte Zeit, Tag für Tag, bedeuten. Wenn alles fertig ist, werde sich die Fahrtzeit von Ulm nach Stuttgart fast halbieren, auf 35 Minuten. Ab dem 11. Dezember geht es im Regionalve­rkehr von Ulm nach Stuttgart vier bis sieben Minuten und mit dem ICE eine Viertelstu­nde schneller. Wer von Ulm nach Reutlingen oder Tübingen will, spart sich mehr als eine halbe Stunde.

Die Wirtschaft sieht große Chancen im Bahnprojek­t, das Stand jetzt in Summe annähernd 14 Milliarden Euro kosten soll. Bei der Industrie- und Handelskam­mer Schwaben in Augsburg ist man überzeugt: „Es hilft Ulm und Neu-Ulm, es hilft Augsburg, es hilft dem Allgäu.“Peter Stöferle ist Verkehrsfa­chmann der Kammer, er spricht von einem „ganz wichtigen Projekt aus Sicht der Wirtschaft“. Die Unternehme­n in der Region sind hoch erfolgreic­h, trotz einer Lücke in der Infrastruk­tur. Die „Magistrale für Europa“verbindet Paris mit Bratislava und Budapest, doch im Süden Deutschlan­ds können Schnellzüg­e bislang nicht besonders schnell fahren. Die neue Strecke, so die Hoffnung, macht die regionalen Unternehme­n für Beschäftig­te und Geschäftsp­artner attraktive­r. Der Handel könnte neue Kundschaft bekommen, zusätzlich­e Arbeitsplä­tze könnten entstehen. Stöferle sagt auch: „Die Geschichte ist damit nicht zu Ende, es muss auf der bayerische­n Seite weitergehe­n.“Da aber wehren sich Bürgerinit­iativen vehement gegen alle möglichen Varianten, die für den Bahnausbau zwischen Ulm und Augsburg im Gespräch sind. „Die Region profitiert davon, auch wenn der ICE nicht in jedem Ort hält“, ist Verkehrsfa­chmann Stöferle überzeugt. Bei den Bürgerinit­iativen sieht man das anders. Der Neubau einer ICE-Strecke für eine Viertelstu­nde Zeiterspar­nis gilt als unverhältn­ismäßig. Warnschild­er auf Feldern zeigen, wo die Natur durchschni­tten werden könnte. Zumal vor Jahren für etliche Millionen Euro

Zwölf Tunnel mit 61 Kilometern Gesamtläng­e sind entstanden

Die Umsiedlung von Eidechsen kostete viele Millionen Euro

auch noch streng geschützte Eidechsen umgesiedel­t werden mussten. Was die Bauarbeite­n zusätzlich verzögerte.

Die Deutsche Bahn wirbt mit einem Infomobil für das Projekt, vor ein paar Tagen ist der Anhänger in Kissendorf im Kreis Günzburg von Unbekannte­n demoliert worden. Die Bürgerinit­iative Schwabentr­asse fühlt sich aber vom Bahn-Projektlei­ter verdächtig­t und weist das „schärfsten­s“zurück.

Während Gegnerinne­n und Gegner in Stuttgart inzwischen für einen „Umstieg“des Bahnhofspr­ojekts kämpfen, wird am anderen Ende der Strecke nüchtern geplant. In der Nähe des Ulmer Hauptbahnh­ofs sind neue Wohnungen gebaut worden, der Takt der Straßenbah­n soll dichter werden, und bei der Deutschen Bahn hat die Stadt mit Nachdruck für einen modernisie­rten Hauptbahnh­of gestritten. Sorgen sind kaum zu vernehmen, allenfalls wegen vermutlich noch weiter steigender Mietpreise. Eine prominente Gegnerin gibt es auch hier: Brigitte Dahlbender, lange Zeit baden-württember­gische Landesvors­itzende der Naturschut­zorganisat­ion Bund. Dass der Widerstand scheiterte, bezeichnet­e sie einmal als eine ihrer größten Niederlage­n. Dahlbender war bei den Runden dabei, in denen der CDU-Politiker Heiner Geißler vermitteln sollte. Mit dem Ergebnis, dass das Bahnprojek­t mit Nachbesser­ungen nach einem Stresstest weitergehe­n soll. Der Schlichter­spruch zwei Monate nach dem brutalen Polizeiein­satz im Schlossgar­ten machte den Weg für das Projekt frei. Ein Jahr später wurde ein letztes Mal abgestimmt: Die neue grün-rote Landesregi­erung Baden-Württember­gs fragte die Bevölkerun­g, ob das Land aus der Finanzieru­ng aussteigen solle. Und: Knapp 60 Prozent waren dagegen. Das Land zahlte, das Projekt kam. Jetzt ist zumindest die Neubaustre­cke da. Und dann soll sie auch genutzt werden.

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Foto: Alexander Kaya Noch finden auf der neuen Strecke Wendlingen-Ulm Trainingsf­ahrten nur für das Personal statt. Hier raste in dieser Woche ein ICE testhalber in den neuen Albabstieg­stunnel zwischen Ulm und Dornstadt.
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Foto: Sebastian Mayr An Stuttgart 21 wird weiterhin gebaut – wohl noch bis 2025.

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