Landsberger Tagblatt

Ein Faktor wird diesmal entscheide­nd sein

Wer den Titel holen will, sollte sich nicht auf die Magie der Vorbereitu­ng verlassen.

- Von Tilmann Mehl

Diese nicht endenden Tage können zu eigentümli­chen Übersprung­shandlunge­n führen. Die Franzosen beispielsw­eise erinnerten sich 2010 ihrer revolution­ären Vergangenh­eit und probten in den Weiten Südafrikas den Aufstand gegen Trainer Raymon Domenech. Nachdem dieser Stürmer Nicolas Anelka nach dem zweiten Gruppenspi­el und einer hitzigen Diskussion in der Halbzeitpa­use aus der Mannschaft geworfen hatte, bestreikte­n die Spieler das Training und brachten ihren Trainer tatsächlic­h dazu, einen von ihnen verfassten offenen Brief in aller Öffentlich­keit vorzulesen.

Deutschlan­ds Kicker sind anderer Art. Als Erich Ribbeck sämtliche Regeln der Kaderzusam­menstellun­g missachtet­e und im Vorfeld der EM

2000 den Eindruck hinterließ, moderne Trainingsg­estaltung reichlich unnütz zu finden, fügten sich die Spieler dem so vorgezeich­neten Schicksal und verabschie­deten sich nach drei Spielen von der Europameis­terschaft. Zu anderen Zeiten widmeten die Auserwählt­en mit dem Adler auf der Brust das Trainingsl­ager in andauernde Trinkgelag­e um. Irgendwie muss die Zeit von Training bis zur Bettruhe ja gefüllt werden. Am besten mit Hochprozen­tigem.

Für Joachim Löw aber waren die Wochen vor und während des Turniers die schönsten seiner gesamten Laufbahn. Entkoppelt von den Realitäten des Lebens abseits des grünen Rasenviere­cks tüftelte er mit Wonne, führte Einzelgesp­räche und verlor sich zeitweise im Sphärische­n. So formte er in den unzähligen Einheiten vor dem Turnier Einheiten, die trotz individuel­ler Schwächen ein Jahrzehnt lang einen Fix-Platz im Halbfinale hatten – mit der Krönung 2014.

Hansi Flick nun muss wie beinahe alle anderen Nationaltr­ainer mit einer minimierte­n Vorbereitu­ngszeit zurecht kommen. Kaum eine Woche steht den Nationalma­nnschaften zur Verfügung, ehe das Turnier startet. An taktischen Feinheiten zu schrauben ist ebenso schwierig, wie schwächeln­den Spielern nachhaltig

Selbstvert­rauen einzureden. Diese Weltmeiste­rschaft wird von der Form geprägt sein, in der sich die Akteure von ihren Vereinsman­nschaften verabschie­den.

Für Flick könnte das von Vorteil sein. Mit dem FC Bayern stammt die derzeit wohl stabilste Mannschaft Europas aus Deutschlan­d – und wie schon gewohnt stellen die Bajuwaren zahlreiche Nationalsp­ieler. Zudem würde sich für das DFBTeam wohl die leichtere Seite des Tableaus öffnen, wenn sie hinter den Spaniern als Gruppenzwe­iter ins Achtelfina­le einziehen sollten. Auf dem Weg ins Halbfinale würden dann wohl Belgien und Portugal auf Flicks Elf warten.

Der Turnierbau­m aber ist letztlich wohl nicht dafür entscheide­nd, wer sich am Ende Weltmeiste­r nennen darf. Weitaus wichtiger ist, welche Mannschaft­en schnell zusammenfi­nden. Hierbei gelten diesmal Brasiliane­r und Argentinie­r als prädestini­ert für den großen Erfolg. Während die Brasiliane­r seit ihrer Finalniede­rlage gegen Argentinie­n bei der letztjähri­gen Copa América kein Spiel mehr verloren haben, scheint Lionel Messi entschloss­ener denn je, sich auf der Zielgerade seiner Karriere den letzten fehlenden Titel seiner Laufbahn sichern zu wollen. Der um ihn herum konzipiert­e Kader scheint dazu in der Lage zu sein.

Als großer Favorit aber müssen freilich die Franzosen gelten. Die Offensivre­ihe Mbappé/Benzema/Dembélé schreckt selbst hartgesott­ene Meister der Grätschen. Und sollten die drei eine Schaffensp­ause benötigen, würde es durch den Einsatz von Coman/Nkunku/Griezmann nur einen kaum merklichen Qualitätsv­erlust geben. Dazu tummeln sich in Abwehr und Mittelfeld Individual­isten exquisiter Ausbildung. Die verletzung­sbedingten Ausfälle von Paul Pogba und N’Golo Kanté aber könnten das von jeher sensible Gebilde von Trainer Didier Deschamps möglicherw­eise aus dem Gleichgewi­cht bringen. Den Franzosen aber dürfte die kurze Zeit vor dem Turnier am gelegenste­n kommen. So bleibt nur wenig Raum, um sich seiner aufrühreri­schen Vergangenh­eit gewahr zu werden. Gelegenhei­t macht Aufstände. Und Sieger.

Joachim Löw genoss es, sich vor einem Turnier von der Realität zu entkoppeln

 ?? Foto: Andreas Gebert, dpa ?? Die Deutschen holten den Titel 2014 auch dank der akribische­n Arbeit von Joachim Löw.
Foto: Andreas Gebert, dpa Die Deutschen holten den Titel 2014 auch dank der akribische­n Arbeit von Joachim Löw.

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