Landsberger Tagblatt

Wie immer WM schauen?

- Von Tilmann Mehl Von Doris Wegner

ProNatürli­ch ist es falsch, die Weltmeiste­rschaft im Fernsehen zu verfolgen. Letztlich kann nur ein gesunkenes Interesse die Fifa überzeugen, künftige Turniere nicht in Länder zu vergeben, die Menschenre­chte als lässliche Fußnote der Geschichte begreifen. Selbstvers­tändlich ist auch der Verzehr von Fleisch aus Massentier­haltung grundverke­hrt, ebenso der Antritt einer Flugreise. „Kognitive Dissonanz“nennt sich in der Wissenscha­ft der Zustand, wenn unterschie­dliche Wahrnehmun­gen nicht miteinande­r vereinbar sind. Der Mensch nun ist ein Genie darin, diese Dissonanz zu überwinden. Er raucht, obwohl er weiß, dass es ihn schädigt. Es gibt kein einziges gutes Argument, diese Weltmeiste­rschaft anzuschaue­n. Es ist schlicht die reine Freude daran, Fußballspi­ele zu verfolgen. Reine Freude allerdings ist schon auch ein erstrebens­wertes Gut. Wem es nun also Spaß bereitet, den besten Fußballern der Welt beim Kicken zuzuschaue­n, dem (oder der) sei das herzlich vergönnt. Fußball setzt Emotionen frei, schafft Gemeinscha­ftsgefühl. Das alles ist bekannt. Das wiegt natürlich nicht die tausenden Gastarbeit­er in Katar auf, die für einen freudvolle­n Torschrei gestorben sind. Die Fans aber sind nicht verantwort­lich für das Leid. Den Fernseher anzuschalt­en hat auch keine direkten Konsequenz­en auf die Situation in Katar. Es schadet freilich nicht, sich aber immer wieder zu vergewisse­rn, unter welchen Umständen diese WM stattfinde­t. Dass die Fifa Zuschaueri­nteresse als eine Währung betrachtet, mit der sich Turniere in autoritäre Staaten verkaufen lassen. Während 90 Minuten kann und soll das ausgeblend­et werden. Davor und danach aber darf man sich schon wundern, wie diese Dissonanz schon wieder aufgelöst wurde.

Contra

Keine Minute Aufmerksam­keit für diese WM. Der Ehrlichkei­t halber muss ich zugeben, dass ich zum Sport-Typus „Event-Fan“zähle, der sich von der allgemeine­n Begeisteru­ng im Umfeld anstecken lässt. Doch bei dieser WM besteht für Menschen wie mich keine Ansteckung­sgefahr – weil die ganze Fußballnat­ion Deutschlan­d nicht ins Fiebern geraten ist.

Wie denn auch? Diese WM wurde in die hektische Winter-Weihnachts­zeit mit aller Macht hineingesp­reizt. Public Viewing in Deutschlan­ddaune auf dem Weihnachts­markt? Echt jetzt? So entstehen keine Wintermärc­hen – zumal die Vorzeichen denkbar schlecht sind. Bei dieser WM geht es nicht darum, ein internatio­nales, möglichst buntes Sportfest zu feiern, sondern darum, einem mächtigen Sponsoren einen Prestigege­winn zu ermögliche­n. Koste es, was es wolle.

Sollte es noch einen Beweis brauchen, das sportliche Großereign­isse politisch missbrauch­t werden, dann wäre er hiermit final erbracht. Seit Jahren steht das Gastgeberl­and Katar in den Schlagzeil­en, wie gravierend in diesem Land Menschenre­chte missachtet werden. Tausende Gastarbeit­er sollen beim Bau der Stadien ums Leben gekommen sein – offizielle­n Angaben zufolge waren es knapp 50! Journalist­en wurden Antworten auf kritische Fragen verwehrt, die Berichters­tattungen gegängelt – was dennoch an die Öffentlich­keit geraten ist, hat die Selbstherr­lichkeit des Emirats aber mehr als enttarnt…

In Katar ist die Falkenjagd Nationalsp­ort. Für Fußball interessie­ren sich die wenigsten. Wann hört dieser Wahnsinn endlich auf, milliarden­teure Sportereig­nisse in Ländern auszutrage­n, deren Herz ganz woanders schlägt?

 ?? Foto: Axel Heimken, dpa ?? Fußball schauen? Vielleicht sogar gemeinsam?
Foto: Axel Heimken, dpa Fußball schauen? Vielleicht sogar gemeinsam?
 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany