Daniela Krien: Die Liebe im Ernstfall (67)
Roman von Daniela Krien
Fünf Frauen, aufgewachsen in der DDR, doch die Mauer ist gefallen, alles, was bisher nur ersehnt war, ist nun möglich, und eine jede der fünf geht daran, aus dem Vollen zu schöpfen – mit ungleichen Ergebnissen, gerade auch, was die Liebe betrifft. Daniela Krien erzählt von modernen Lebenslinien, die sich schicksalhaft überkreuzen.
© 2019 Diogenes Verlag AG Zürich
Doch weder Torben noch die Kinder sind dabei. Jorinde ist allein gekommen.
Für einen Moment schließt Malika die Augen und hält sich an den therapeutischen Rat. Statt sich mit Jorinde zu vergleichen, setzt sie sich in Bezug zu ihrem alten Ich. Sie sieht, wie weit sie sich entwickelt hat, was sie erreicht hat, dass eine beliebte Geigenlehrerin aus ihr geworden ist. Erst dann erhebt sie sich und geht aufrecht auf ihre Schwester zu.
*
Jorinde sitzt auf dem Balkon. Allein. Malika hätte ihr folgen können, doch das Gespräch mit Bertram war interessant geworden. Während sich die Gäste nun in der Küche um den Tisch mit den Canapés drängen, geht sie hinaus. Im Badezimmer verriegelt sie die Tür und setzt sich auf den Rand der Wanne. Bertram hatte ihr eindeutig zugelächelt, als sie sich an den Hungrigen vorbeigeschoben hatte. Geistig scheint er ihr näher zu sein als angenommen. Die Übereinstimmungen hatte sie augenzwinkernd zusammengefasst. Nicht alles Neue ist gut. Nicht jeder Fremde kommt friedlich. Nicht jede Grenze engt ein. Er hatte erleichtert genickt, dann war sie aufgestanden.
Den Vergleich mit Götz besteht er dennoch nicht.
Als sie damals, an einem kaltblauen Novembertag, aus der psychiatrischen Klinik entlassen wurde, hatte sie die Zukunft klar vor sich gesehen.
Vicky und Helmut warteten neben einem abgedeckten Flügel und einer Oase tropischer Grünpflanzen. Patienten hingen schlaff in den überall verteilten gelben Kunstledersesseln und starrten auf die Displays ihrer Smartphones. Malika ging Stufe für Stufe die Treppe hinab und dachte, dass ihr Leben ab sofort eine aussichtslose Suche sein würde. Noch einmal so lieben könnte sie nicht. Und weniger lieben wollte sie nicht.
Nach ihrem Umzug half ihr ein gleichförmiger Rhythmus aus Arbeit, Therapie und geregelter Freizeitgestaltung. In den kommenden zwei Sommern fuhr sie sogar hin und wieder zum See hinaus, zum Wiesenhang mit den Apfelbäumen. Sie schwamm bis zum anderen Ufer und zurück. Götz sah sie kein einziges Mal.
Als die Erinnerungen sich nicht mehr bleiern über jedes bisschen Gegenwartsglück legten, sah sie den Aufsteller vor ihrer Stammbuchhandlung. Die Frau auf dem Bild war Brida Lichtblau. Ihr Buch hieß Lebensmuster.
Am Abend der Buchpremiere war Malika sich sicher gewesen, ihn zu treffen. In der ersten Reihe. Stolz auf seine Frau, die dort an einem Tisch saß und lesen würde. Sie suchte die Stühle ab. Vorn rechts erkannte sie Frau Dr. Gabriel. Daneben nahm die Buchhändlerin mit den roten Locken Platz. Götz fehlte. Ihr Blick ging erneut umher. Er war nicht da.
Vom Inhalt des Buchs bekam sie kaum etwas mit. Die Gedanken standen nicht still. Seine Abwesenheit konnte alles bedeuten, und dieses Alles enthielt auch die Chance auf einen neuen Versuch. Doch Bridas Worte am Schluss der Lesung zerschlugen die Hoffnung. Sie danke ihrem Mann Götz, der heute leider nicht dabei sein könne, weil ihre kleine Tochter krank sei. Am nächsten Vormittag fuhr Malika zum Laden und blickte durch die Schaufensterscheiben. Das Bett war weg. Sie radelte weiter zur Buchhandlung und holte sich ein Exemplar von Lebensmuster.
Seither liest sie alles, was Brida Lichtblau schreibt. Jede männliche Figur trägt Züge von Götz. Näher kommt sie ihm nicht.
Laut der Buchhändlerin ist Malika Bridas größter Fan.
Sie stellt sich vor den Spiegel, türmt die Haare zu einem hohen, lockeren Dutt und trägt Lippenstift auf. Es muss ein Ende haben. Sie weiß es.
Durch das Milchglas in der Badezimmertür sieht sie jemanden stehen. Ein letzter prüfender Blick, dann tritt sie in den Korridor.
Gehen wir ins Schlafzimmer, sagt sie zu Jorinde, da stört uns keiner.
Vor dem Jorinde-Schrein bleiben sie stehen. Er ist vollgestopft mit kleinen Strickjacken und Stramplern aus ihrem ersten Lebensjahr, ihrem ersten Paar Schuhe, ihrer Lieblingspuppe Lilli, diversen Kuscheltieren, einem Stoffsäckchen mit Murmeln, einem Schuhkarton mit Schreibheften, Bildern und Aufsätzen aus den höheren Schuljahren.
Die sichtbaren Erinnerungen an Malikas Kindheit hat Viktoria gründlich getilgt. Es existieren weder Babykleidung noch Spielzeug, nur ein paar Zeichnungen und Briefe aus der Grundschulzeit und zwei Urkunden über die Teilnahme an unbedeutenden Geigenwettbewerben.
Hast du noch mal darüber nachgedacht? Jorinde blickt sie angstvoll an.
Wie klein ihre Schwester ist. Ihre Präsenz im Film und auf der Bühne hat nichts mit körperlichen Attributen zu tun. Es ist vielmehr eine von innen nach außen wirkende Selbstsicherheit.
Und ja. Sie hat nachgedacht. Ganze Nächte hatte Malika konkrete Situationen durchgespielt. Hatte sich gefragt, was sie tun würde, wenn Jorinde ihr Kind zurückverlangte.
Hatte sich vorgestellt, was das Kind tun würde, wenn es später erführe, dass seine Tante in Wahrheit seine Mutter war. 68. Fortsetzung