Austritte treffen auch evangelische Kirche
Der evangelischen Kirchengemeinde in Landsberg kehren momentan vermehrt Menschen den Rücken. Für Pfarrer Siegfried Martin ist das aber kein Grund zur Resignation.
Nicht nur die katholische Kirche hat mit einem Mitgliederschwund zu kämpfen. 2022 stellte die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern einen neuen Negativrekord auf: 48.542 Menschen hatten ihr den Rücken gekehrt – so viele wie noch nie innerhalb eines Jahres. Unsere Redaktion hat mit Siegfried Martin, Pfarrer in der Evangelischen Kirchengemeinde Landsberg, über die aktuelle Situation gesprochen.
Laut dem Dekanat in Weilheim zählte die evangelische Kirchengemeinde in Landsberg im vergangenen Jahr 6048 Mitglieder und 206 Austritte. In Dießen-Utting (3891 Mitglieder) waren es 148 Austritte und in Kaufering (2636 Mitglieder) 61. Der Landsberger Pfarrer Siegfried Martin spricht vor diesem Hintergrund von Austritten auf hohem Niveau in seiner Kirchengemeinde. Grundsätzlich vollzögen sich diese in Wellen: Im Moment ist laut Martin wohl davon auszugehen, dass Skandale eine Rolle spielten: „Auch wenn es vor Ort keine Skandale gibt, die Stimmung ist eine andere“, beobachtet er. Ebenso wie religiöses Desinteresse oder eine zunehmende Skepsis an großen Institutionen. Oft lasse sich aber ein eindeutiger Anlass für die Austritte gar nicht benennen.
„Ich liebe meinen Beruf als Seelsorger und bin leidenschaftlich mit meiner Evangelischen Kirche verbunden. Wir machen in unserer Gemeinde eine gute Arbeit“, sagt Martin. Da schmerze ihn und sein Team jeder einzelne Austritt, wobei noch keine Auswirkungen auf den Zulauf bei den Gottesdiensten zu beobachten seien. „Neugierige Konfessionslose besuchen den ein oder anderen Gottesdienst. Wiederum gibt es treue Evangelische, die nicht in die Gottesdienste gehen“, berichtet Pfarrer Martin.
Siegfried Martin verweist zudem auf einen gesellschaftlichen Trend. „Mitgliedschaft ist heute in allen Bereichen individueller, schwebender, unverbindlicher und auch kündbar – wie zum Beispiel ein Abo.“Den Trend zur Individualisierung bewertet er einerseits positiv, allerdings lasse auch das Bewusstsein für Verbundenheit an manchen Stellen nach. „Gesellschaftliche Verbundenheit, Gemeinsinn und damit auch kirchliche Verbundenheit drohen zu sehr infrage gestellt zu werden. Wo doch Verbundenheit unter Völkern und Menschen, Jung und Alt, und zwischen verschiedenen Milieus so wertvoll und wichtig wäre. Verbundenheit ist Voraussetzung für Kreativität.“
Kirchenaustritte seien auch Zeichen der starken Freiheitsrechte jeder Person, sagt Siegfried Martin. „Seit dem Weltkrieg und bis Ende des letzten Jahrhunderts waren nicht wenige Menschen aus Tradition oder Konvention Mitglied der Kirche. Ein Kirchenaustritt war für die meisten undenkbar.“Die Menschen seien oft wegen der zu befürchtenden unangenehmen Konsequenzen geblieben. Inzwischen habe sich die Situation jedoch grundlegend gewandelt: „Heute gehört es in manchen Kreisen zum guten Ton, aus der Kirche auszutreten. Die Kirchenaustritte der letzten Jahre sind deshalb auch ein Ausdruck der Freiheit, bewusst wählen zu können.“Der Glaube an göttliche Liebe und damit verbundene Werte lasse sich ohnehin nicht erzwingen. „Freiwilligkeit und innere Überzeugungen wachsen bei denen, die in der Kirche bleiben. Hier herrscht eine besondere Verbundenheit.“
Die Austritte sind für den Landsberger Pfarrer kein Grund zur Resignation, vielmehr sähen er und sein Team den gesellschaftlichen Wandel als Chance, neue Wege zu gehen. „Auch wenn wir große gesellschaftliche Megatrends nicht unbedingt stoppen können. Wir gestalten voller Freude und selbstbewusst das Gemeindeleben.“So seien etwa Taufen am Lech sehr nachgefragt, wenn eine Band bei einem Gottesdienst spiele, sei die Kirche rappelvoll. Ein wichtiges Anliegen sei auch der Betrieb des Evangelischen Kindergartens: Kinder sollen christliches Grundvertrauen als Baustein in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit erleben.
Beachtlich sei, dass auf der anderen Seite die Zahl der Menschen, die mit Anrufen oder E-Mails nach einem Wiedereintritt fragten, von Jahr zu Jahr merklich zunehme, sagt Martin. Sie vermissten dann doch die Verbundenheit oder möchten Pate oder Patin bei einer Taufe werden. In der aktuell von Krisen geprägten Zeit beobachte Martin auch ein vertieftes Fragen nach Lebenssinn, nach Werten, die tragen, und welche Wege in eine gute Zukunft führen. Siegfried Martins tiefe Überzeugung: „Es wird immer Menschen geben, die in Glaube, Hoffnung und Liebe Verbundenheit suchen. Um den Glauben an Gottes Liebe geht es im Kern.“
„Ein Kirchenaustritt war für die meisten undenkbar.“
Pfarrer Siegfried Martin