Eine Klinik unter Beschuss
Die russische Armee versucht seit Monaten, das Städtchen Kupiansk im Osten der Ukraine zurückzuerobern. Keine zehn Kilometer von der Front entfernt kämpfen Ärzte im dortigen Krankenhaus mit den Folgen des Krieges – und riskieren dabei ihr Leben.
Der Krieg droht Taissa das Herz zu brechen. Die 86-Jährige sitzt im dämmrigen Flur und wartet auf ihren Behandlungstermin. Es ist ein wenig zugig, draußen hat es bittere Minusgrade. Mildes Licht fällt durch die Fenster auf die PVCVersatzstücke, die den Boden bedecken. An einem Rohr hat jemand ein UkraineFähnchen befestigt. Der Flur ist das Wartezimmer, ein Provisorium. „Dieser Krieg macht mir wirklich das Herz schwer. Es schmerzt. Aber wen wundert es, alles ist verrückt geworden“, sagt die Seniorin und versucht ein tapferes Lächeln.
Verrückt geworden – das sind die richtigen Worte für das, was mit dem Städtchen Kupiansk tief im Osten der Ukraine geschehen ist. Für das, was mit Kupiansk gerade weiter geschieht. Kaum zehn Kilometer sind es zur Front. Dort machen die russischen Truppen Druck. Seit Monaten versuchen sie, die Stadt wieder zurückzugewinnen. Sie schicken immer neue Angriffswellen gegen die ukrainischen Verteidigungslinien.
Die Russen hatten Kupiansk zu Beginn der Invasion schnell erobert, dann konnten die Ukrainer die Stadt im September 2022 wieder befreien.
Die kurzzeitige russische Besatzung bedeutete in Kupiansk und Umgebung: Verhaftungen, Folter und Entrechtung. Der Großteil der etwa 30.000 Einwohner der Stadt floh in ukrainisch gehaltene Gebiete. Die Versorgung der Menschen selbst mit Grundnahrungsmitteln war völlig unzureichend. Viele fürchten, dass Kupiansk wie zuvor Bachmut, Mariupol oder Awdijiwka als eine Stadt in Trümmern endet.
Jetzt stürmen die russischen Truppen wieder an. Braam, Braam, Braam – so geht es die ganze Zeit. Die Artillerie grollt fast ununterbrochen. Auf dem Weg vom Hauptplatz der Stadt bis zum Krankenhaus sieht man, was Raketen- und Granatenbeschuss anrichtet. Häuser stehen da, in denen ganze Stockwerke in sich zusammengebrochen sind. Bei anderen haben die Explosionen die Dächer einfach fortgerissen. In Wänden stecken Splitter. Leere Fensterhöhlen blicken auf leere Straßen.
So geht das in einem fort. Am Krankenhaus macht es nicht Halt. 120.000 Menschen aus der Region versorgte es vor der Invasion am 24. Februar 2022. Es wurde viel investiert. Die Gebäude erhielten vor wenigen Jahren eine Generalsanierung, neue Geräte wurden angeschafft.
Inzwischen hat der Haupttrakt Raketentreffer abbekommen. Das ist kein Einzelfall: Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation gab es seit Beginn der Invasion mehr als 1500 Angriffe auf ukrainische Gesundheitseinrichtungen. Fast 200 davon wurden völlig zerstört. Laut WHO kosteten die Angriffe bisher 121 Patienten, Ärztinnen oder Pfleger das Leben.
Als Taissa in Kupiansk an dem Gebäude vorbeigelaufen ist, in dem sie nun ihren Termin hat, konnte sie in die Patientenzimmer wie in ein Puppenhaus blicken. Fenster, Rahmen und Teile des Mauerwerks fehlen. Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung haben Kupiansk verlassen. Staatliche Stellen hatten schon im August 2023 zur Evakuierung aufgerufen. Zu häufig ist der Beschuss durch die russischen Streitkräfte, zu nahe die Front, zu vehement die Angriffe. Einige der Menschen sind trotzdem geblieben. Oft Seniorinnen und Senioren wie Taissa. Oder Mitarbeiter der Kommune, die versuchen, die Versorgung mit Wasser und Strom zu gewährleisten.
„Wo soll ich denn in meinem Alter noch hin? Ich bin hier geboren. Es wird so kommen, wie es kommen soll“, sagt Taissa. Für Gebliebene wie die alte Frau begibt sich Tetjana selbst jeden Tag in Gefahr. Die 63-Jährige ist Herzspezialistin und stellvertretende Klinikleiterin. Sie bittet Taissa ins Behandlungszimmer. Das ist ein schmaler Raum, gerade noch breit genug, dass der Schreibtisch der Ärztin quer stehen kann und ein Patient samt Stuhl daneben Platz findet. Ein anderer Schreibtisch ist an die Wand gedrückt. Hier nimmt die Verwaltungskraft die Daten auf. „Schmerzt das Herz wieder?“, fragt Tetjana. Taissa nickt traurig. Die 63-Jährige untersucht sie mit dem Stethoskop.
„Mir wird selbst das Herz schwer, wenn ich unsere Situation sehe“, sagt die Ärztin leise. „Am 27. Februar 2022 ratterten die russischen Panzer durch unsere Stadt. Die Invasion hatte drei Tage zuvor begonnen. Seitdem ist nichts mehr so, wie es einmal war.“Taissa fügt nickend hinzu: „So viel Zerstörung, so viele Tote. Jetzt sind wir in Kupiansk froh, wenn uns keine Granaten und Raketen treffen, wir Strom und Wasser haben.“Es ist nicht der erste Krieg, den sie erlebt.
Im Zweiten Weltkrieg hatten deutsche Truppen die Stadt besetzt. Taissa lebte da schon in Kupiansk. „Im Elternhaus hatten sich deutsche Soldaten einquartiert. Mein Bruder und ich hatten immer Hunger. Die Versorgung war schlecht. Manchmal schmerzte der Magen, so wenig hatten wir. Mit großen Augen sahen wir einem Soldaten beim Essen zu. Zuerst hat er uns wütend angefahren. Am Ende hat er sich dafür geschämt und uns ein großes Butterbrot gegeben. Das werde ich nie vergessen“, sagt die Seniorin zum Abschied.
Tetjana gibt ihr Herztropfen mit. „Sie bräuchte vor allem Ruhe, aber wie kann sie die in dieser Zeit finden?“Die Ärztin schüttelt den Kopf. Taissa macht sich mit ihrer Begleitung auf den Heimweg. Die Herzspezialistin führt durch das Gebäude. „Wir können noch den Service einer Poliklinik liefern, immerhin. Schwere Fälle werden nach Charkiw überstellt. Weiter stehen unsere Ambulanz-Fahrzeuge bereit. Wenn Patienten es nicht zu uns schaffen, kommen wir zu ihnen“, erzählt sie. Und dass Behandlung und Medikamente kostenlos sind. „Mit Medikamenten sind wir ausreichend ausgestattet. Unter der Besatzung war das anders. Es fehlte an allem. Unser Gehalt bezogen wir damals online von den ukrainischen Behörden“, erklärt die Ärztin. „Bevor die Invasion begann, waren wir stolz, als unser Krankenhaus endlich saniert war. Jetzt ist so viel zerstört oder beschädigt. Nun müssen wir unsere Patientinnen und Patienten in diesem über 100 Jahre alten Nebengebäude behandeln, das zuvor als ein besseres Lagerhaus diente“, seufzt sie.
Platz ist wenig in dem einstöckigen Haus. Die Behandlungszimmer sind Provisorien. Von den Wänden bröckeln Putz und Farbe. Wie in dem Zimmer, in dem kleine ambulante Operationen vorgenommen werden. Die stellvertretende Leiterin führt durch einen dämmrigen Saal, in dem die Geräte stehen, die aus dem bombardierten Hauptgebäude gerettet wurden. Dahinter befindet sich das nächste Zimmer für die augenärztliche Behandlung. Ein schmaler schlauchartiger Raum. Die Buchstaben-Tafel leuchtet am Ende des Kämmerchens. Ein älterer Herr wird gerade untersucht. Er blickt traurig in die Kamera.
Dann ein kurzes Treffen mit dem ÄrzteTeam. Die Mediziner haben einen Ruheraum mit einer Couch, einem Bett und allerlei abgestellten Kartons und medizinischen Geräten darin. Da ist Juri, der 55-jährige Anästhesist. Neben ihm auf dem Sofa sitzt Oleg, der Onkologe. Chirurg Andrii berichtet von den zwei russischen Raketen, die ins Krankenhaus einschlugen. Von dem Kollegen, der das nicht überlebte. Von den zwei Kindern, die sie gleich zu Beginn der Invasion notoperierten, bevor sie nach Charkiw gebracht wurden. „Eines starb, und es tut mir immer noch weh“, sagt der Mediziner. „Dem anderen Mädchen wurde ein Bein abgenommen“, fügt Oleg an.
Gut zwei Jahre Invasion, davon mehr als ein halbes Jahr unter Besatzung, das hat auch bei den Helferinnen und Helfern Spuren hinterlassen.
Juri spricht von dem andauernden Beschuss, den die Menschen von Kupiansk über sich ergehen lassen müssen. „Wir wissen nicht, trifft es wieder unser Krankenhaus? Trifft es die Patienten auf dem
Verhaftungen, Folter und Entrechtung prägen die russische Besatzung.
Das Krankenhaus gibt den Verbliebenen noch ein wenig Sicherheit im Wahnsinn des Krieges.
Weg zu uns? Trifft es uns selber? Die Situation macht die Menschen natürlich depressiv. Alles ist schwer zu ertragen“, sagt er. „Trotzdem war für uns alle hier klar: Wir bleiben. Das ist einfach unsere Pflicht“, sagt Andrii. „Keiner von uns hätte sich vorstellen können, dass das passiert. Im 21. Jahrhundert, mitten in Europa, mitten in Kupiansk“, ergänzt Tetjana. Das Krankenhaus-Team weiß, dass seine Klinik für die Verbliebenen eine der wenigen Einrichtungen ist, die noch ein wenig Sicherheit im Wahnsinn des Krieges gibt. Eine schwere Verantwortung. So werden sie weiter ausharren.
In den Nachmittagsstunden schließt die Poliklinik gegen 16 Uhr. „Doch wir schicken niemanden unbehandelt nach Hause. Eine Notschicht steht ebenfalls bereit“, sagt Andrii. Tetjana wird sich auf den Heimweg machen. Zu Hause wartet ihre hochbetagte Mutter auf sie. Um die kümmert sie sich auch noch. „Wenigstens meine Tochter ist in Charkiw halbwegs in Sicherheit“, sagt sie. Charkiw steht regelmäßig unter russischem Raketen- und Drohnenbeschuss. Dort arbeitet die Tochter als Ärztin. „Ich bin stolz auf sie. Darauf, wie sie in dieser schweren Zeit ihre Pflicht erfüllt.“
Nicht weit von ihrem Haus hat eine Rakete ein Gebäude in ein Trümmerfeld verwandelt. Tetjana weiß, dass weitere Ruinen in Kupiansk hinzukommen werden. Der Lärm des Krieges lässt es sie an keinem Tag vergessen.