Landsberger Tagblatt

Der Kanzler und sein Spion

Willy Brandt holte Wahlsiege für die SPD, für seine Ostpolitik erhielt er den Nobelpreis – dann stürzte er über einen Skandal. Vor 50 Jahren erschütter­te die Guillaume-Affäre die Republik.

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Bonn/Berlin Als Willy Brandt am Mittag des 24. April 1974 nach einer Dienstreis­e am Flughafen Köln-Bonn landet, warten auf dem Rollfeld sein Kanzleramt­schef Horst Grabert und Innenminis­ter Hans-Dietrich Genscher. „Schon auf Abstand war ihnen anzusehen, dass sie mir etwas Besonderes zu sagen hätten“, erinnert sich Brandt später. Am frühen Morgen sind Brandts Referent Günter Guillaume und dessen Frau Christel festgenomm­en worden. Beide sind Spione der DDR-Staatssich­erheit. „Die Nachricht war ein Hammer“, schreibt Brandt in seinen „Erinnerung­en“. Am 6. Mai 1974 tritt der Sozialdemo­krat vom Amt des Bundeskanz­lers zurück.

Auch 50 Jahre später gilt die sogenannte Guillaume-Affäre als einer der spektakulä­rsten Spionagefä­lle der Bundesrepu­blik. „Weder davor noch danach war es einem Agenten aus dem kommunisti­schen Herrschaft­sbereich gelungen, so weit in das innerste Zentrum der politische­n Macht vorzudring­en“, bilanziert­e jüngst die Jenaer Historiker­in Annette Weinke in einem Vortrag bei der Bundeskanz­ler Willy Brandt Stiftung. Der „kommunisti­sche Herrschaft­sbereich“ist Geschichte, der ganze Skandal wirkt wie ein fernes Echo des Kalten Kriegs. Einerseits. Anderersei­ts fasziniert der Fall bis heute. Wie konnte ein damals wie heute ikonenhaft verehrter Bundeskanz­ler und Friedensno­belpreistr­äger darüber stürzen?

Das politische Umfeld wirkt verblüffen­d aktuell. So titelte der Spiegel im Herbst 1973 mit dem vermeintli­ch führungssc­hwachen „Kanzler in der Krise“und schrieb: „In der Regierung lässt der Kanzler nach dem Geschmack vieler Genossen der FDP zu viel Freiheit, und der Gedanke an seinen Sturz ist nicht mehr tabu.“Hört sich bekannt an?

Auch die konkreten politische­n Probleme erinnern an heute. Ein Krieg hatte eine Energiekri­se ausgelöst, damals der sogenannte Jom-Kippur-Krieg nach einem Angriff arabischer Staaten auf Israel. „Das Wachstum stagnierte, die Arbeitslos­igkeit stieg, das Preisnivea­u ebenfalls“, schreibt Brandt. Dazu kamen Tarifkonfl­ikte und Streiks sowie ein Thema, das offenbar ewig währt: „Der Vorschlag eines Tempolimit­s scheiterte am

resoluten Einspruch der parteilibe­ralen Kollegen.“

Brandt hatte noch 1972 einen grandiosen Wahlsieg für die SPD geholt. Doch inzwischen kabbelte er sich mit dem Koalitions­partner FDP und mit Herbert Wehner, dem Chef der SPD-Bundestags­fraktion. CDU/CSU stellten sich gegen seine Ostpolitik, also die Entspannun­g im Verhältnis zur damaligen Sowjetunio­n und zur DDR mit den sogenannte­n Ostverträg­en. 1973 trat der deutsch-deutsche Grundlagen­vertrag in Kraft, die faktische Anerkennun­g der DDR.

Günter Guillaume war 1927 in Berlin geboren worden und 1956 als angebliche­r Flüchtling mit seiner Frau Christel aus der DDR nach Frankfurt am Main übergesied­elt. Tatsächlic­h waren beide im AufOktober

trag des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit unterwegs, Decknamen „Hansen“und „Heinze“. Sie eröffneten einen Tabakladen und traten auftragsge­mäß in die SPD ein. Günter Guillaume managte den Wahlkampf des SPD-Verkehrsmi­nisters

Georg Leber und erhielt daraufhin Lebers Empfehlung für einen Referenten­posten im Kanzleramt. Guillaumes DDR-Vergangenh­eit, Ungereimth­eiten bei der Sicherheit­süberprüfu­ng und selbst Geraune über seine Mittelmäßi­gkeit stoppten den Mann nicht. Im

1972 stieg er zum persönlich­en Referenten des Bundeskanz­lers auf, zuständig für Brandts Termine als SPD-Chef, wie Kristina Meyer in ihrem Rückblick auf die Geheimdien­st-Affäre berichtet. Doch schon im Mai 1973 hatte das Bundesamt für Verfassung­sschutz konkrete Verdachtsm­omente gegen Guillaume. Man war ihm auf der Spur, fast ein Jahr vor seiner Verhaftung.

Brandt wurde informiert. Aber die Ermittler baten ihn, Guillaume im Amt zu lassen, um Beweise gegen ihn zu suchen. Als im Frühjahr 1974 der Druck wuchs, dem mutmaßlich­en Spion das Handwerk zu legen, hatten die Ermittler immer noch nicht genug in der Hand. Sie hatten Glück, Guillaume enttarnte sich selbst, als er im Morgenmant­el der Polizei die Tür öffnete. Er sei „Bürger der DDR und ihr Offizier“, sagte der damals 47-Jährige laut Brandts „Erinnerung­en“.

„Dem Kanzler waren die Versäumnis­se im ,Fall Guillaume‘ nicht anzulasten“, analysiert der Historiker August Hermann Leugers-Scherzberg. „Verfassung­sschutz und Innenminis­terium hatten versagt.“Warum also trat nicht der Innenminis­ter zurück, sondern der Kanzler? Anlass waren Aussagen von Brandts Personensc­hützern, die womöglich unter Druck zustande kamen. Die Essenz waren Sexgerücht­e: Der Leiter der Sicherungs­gruppe Bonn und Guillaume selbst hätten die Aufgabe gehabt, „dem Kanzler Frauen zu verschaffe­n“, seien es Journalist­innen, Zufallsbek­anntschaft­en oder Prostituie­rte. Somit besitze Guillaume erpresseri­sches Wissen über den Kanzler, schrieb der Präsident des Bundeskrim­inalamts, Horst Herold, am 30. April an Innenminis­ter Genscher. Verfassung­sschutzprä­sident Günter Nollau soll auf Rücktritt gedrungen haben.

Brandt selbst bestritt, dass er erpressbar sei. Guillaume verfüge nicht über ihn betreffend­e Informatio­nen, die die Interessen des Staats berührten, heißt es in seinem Buch. „Brandt wähnte sich daher als Opfer einer Intrige des Verfassung­sschutzes“, schreibt Leugers-Scherzberg. Guillaume sagte später einmal: „Ich war nur der Knüppel, mit dem man ihn aus dem Amt trieb.“In einem 15-seitigen Bericht vertrat die Staatssich­erheit dieselbe Linie. Brandts Sturz war offenkundi­g nicht im Sinne der DDR-Führung, verlor sie doch den Bonner Protagonis­ten der Ostpolitik.

Brandt blieb trotz des Rücktritts als Bundeskanz­ler SPD-Chef. Das Regierungs­amt übernahm Helmut Schmidt. Genscher wurde Außenminis­ter. Günter und Christel Guillaume wurden 1975 zu langjährig­en Haftstrafe­n verurteilt, aber 1981 im Austausch gegen Bundesbürg­er in die DDR entlassen. StasiMinis­ter Erich Mielke empfing sie wie Helden: „Euer Auftrag, für die Sache des Sozialismu­s und des Friedens bis zur letzten Möglichkei­t zu kämpfen, wurde ehrenvoll erfüllt.“Günter Guillaume starb 1995. Christel ließ sich scheiden und lebte bis 2004. (Verena Schmitt-Roschmann, dpa)

Brandt wähnte sich als Opfer einer Intrige.

 ?? Foto: Peter Popp, dpa ?? Bundeskanz­ler Willy Brandt mit Ehefrau Rut und Sohn Matthias bei einem Sonntagssp­aziergang. Mit dabei: Brandts damaliger persönlich­er Referent Günter Guillaume.
Foto: Peter Popp, dpa Bundeskanz­ler Willy Brandt mit Ehefrau Rut und Sohn Matthias bei einem Sonntagssp­aziergang. Mit dabei: Brandts damaliger persönlich­er Referent Günter Guillaume.

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