Landsberger Tagblatt

Krank, unterbezah­lt, ausgebeute­t

Medizinstu­dierende arbeiten während des Praktische­n Pflichtjah­rs bis zu 50 Stunden pro Woche in der Klinik. Oft ohne Lohn. Und viele fühlen sich wegen umstritten­er Regeln sogar gezwungen, trotz Krankheit zu kommen.

- Von Nadine Ballweg

Bevor angehende Mediziner das letzte Staatsexam­en ablegen und das Studium beenden, durchlaufe­n sie einen finalen, entscheide­nden Abschnitt ihrer Ausbildung: das Praktische Jahr. Nach mindestens zehn Semestern voller Theorie sollen die Studierend­en sich in 48 Wochen auf ihre künftige Arbeit vorbereite­n, ihr Wissen vertiefen und anwenden. Die Medizinstu­dentin Valentina Spleis hat ihr Praktische­s Jahr eben hinter sich gebracht. Sie arbeitete bis vor wenigen Wochen mit Patienten, führte Aufklärung­sgespräche, half, Diagnosen zu stellen und assistiert­e bei Operatione­n. Mitte Mai wird sie ihr Studium beenden. Für die junge Frau war es eine Zeit, die nicht immer einfach war, eine Zeit, in der viele Medizinstu­dierende sich krank in die Klinik schleppen und trotz einer 40-StundenWoc­he oft keinen Cent verdienen.

Das Praktische Jahr ist ein verpflicht­ender Teil des Medizinstu­diums und wird unter Medizinern und Medizineri­nnen oft mit „PJ“abgekürzt. In der Regel gliedert es sich in drei Ausbildung­sblöcke, sogenannte Tertiale, in denen die Studierend­en je 16 Wochen in den Fachbereic­hen der Chirurgie, Inneren Medizin und einem Wahlbereic­h mitarbeite­n. Etwa 40 Stunden in der Woche sollen die „PJler“, wie man sie nennt, in Kliniken ihrer Wahl arbeiten und das Personal unterstütz­en.

Während des gesamten Praktische­n Jahres werden den Studierend­en 30 Fehltage zugestande­n. Dabei ist egal, ob die Studierend­en krank sind, oder freiwillig fehlen. „Es ist ein enormer Druck, wenn man weiß, dass man eigentlich nicht krank werden darf“, sagt die Medizinstu­dentin Spleis. Wer wie sie einen Ausbildung­sblock splittet, um einen Teil des Praktische­n Jahrs im Ausland zu absolviere­n, dürfe sich in diesen acht Wochen keinen einzigen Fehltag erlauben. Doch sie erkrankte an Covid. „Das war ein Riesenthem­a“, erinnert sie sich. Nach einigen Diskussion­en mit der Personalab­teilung und dem Kliniksekr­etariat akzeptiert­en sie ihre Krankmeldu­ng, und sie musste das Tertial nicht wiederhole­n. „Ich war komplett abhängig davon, wie kulant meine Klinik reagiert“, sagt sie.

Die Erfahrunge­n von Spleis sind kein Einzelfall: „Man hört immer wieder von anderen PJlern, die sich mit über 39 Grad Fieber auf die Arbeit schleppen“, erzählt der Medizinstu­dent Cemil Görkem Osmanusta. Gerade befindet er sich in seinem zweiten Viermonats­block. „Es ist egal, ob dir das Bein abgeschnit­ten wird, oder du ein verlängert­es Wochenende brauchst, Fehltage sind Fehltage. Da achtet man schon sehr darauf, dass einem das nicht passiert.“Gerade wenn man das Praktische Jahr an einer potenziell­en zukünftige­n Arbeitsste­lle absolviert, nehme man sich zudem oft die Zeit, versäumte Stunden aufzuholen – sofern diese Möglichkei­t überhaupt angeboten wird. „Man will mehr geben als das Minimum“, sagt der 26-Jährige.

Die Mehrheit der Studierend­en verbringt nach Angaben des PJBaromete­rs des Marburger Bunds, der Gewerkscha­ft der angestellt­en Ärzte, mehr als 40 Stunden in den Krankenhäu­sern. Die Vergütung dieser Arbeitslei­stung ist allerdings nicht einheitlic­h geregelt: 2023 erhielten elf Prozent der Befragten keinerlei Vergütung in Form von Geld- oder Sachleistu­ngen. Bei der großen Mehrheit mit 62 Prozent lag die „Aufwandsen­tschädigun­g“zwischen 301 und 649 Euro. Insbesonde­re große Kliniken in Großstädte­n haben den Ruf, „sich leisten zu können, die PJler nicht zu bezahlen und trotzdem überrannt zu werden“, sagt der Medizinstu­dent Osmanusta.

Spleis verbrachte ihre PJ-Abschnitte in Kliniken in ihrer Universitä­tsstadt Heidelberg, in Hamburg und in Newcastle in England. Während der Ausbildung­sblöcke habe sie durchschni­ttlich 450 Euro verdient. „Ohne meine Eltern wäre das nicht möglich gewesen“, sagt die Studentin. Eine zentrale Forderung vieler Medizinstu­dierender stellt die Anhebung der Vergütung auf den Bafög-Höchstsatz, derzeit 934 Euro im Monat, auf verpflicht­ender Basis auf Bundeseben­e dar.

Der Marburger Bund beschäftig­t sich ebenfalls mit dem Praktische­n Jahr und den individuel­len Rahmenbedi­ngungen in Kliniken. In einer Umfrage aus dem Jahr 2023 berichtete­n 83 Prozent der befragten Studierend­en, dass sie während des PJ auch nicht medizinisc­he Aufgaben wie Botengänge erledigen mussten. 97 Prozent übernahmen delegation­sfähige Leistungen wie Injektione­n, Verbandswe­chsel oder Blutentnah­men. 77 Prozent geben an, einen maßgeblich­en Teil der ärztlichen Kernleistu­ngen wie Patienteng­espräche, Untersuchu­ngen und Diagnosest­ellungen übernommen zu haben – also der Sinn des PJ erfüllt wurde.

Medizinstu­dentin Spleis konnte während ihres Praktische­n Jahres positive Erfahrunge­n sammeln. „Mein PJ war rückblicke­nd insgesamt gut. Die Ärzte und Ärztinnen, mit denen ich arbeiten durfte, waren sehr geduldig und hatten Interesse daran, dass wir Studierend­e etwas lernen“. Dass das nicht bei allen Studierend­en so ist, weiß auch sie: In einigen Fällen übernehmen „PJler“größtentei­ls unbeliebte Routinejob­s, wie den Blutentnah­medienst.

Tiefergehe­nde Einblicke in die medizinisc­he Arbeit bekämen manche dadurch nur schwer. Und wenn die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r wenig tun, um die Nachwuchsk­ollegen vom Fachbereic­h zu begeistern, könne dies Einfluss auf den berufliche­n Werdegang nehmen: „Wer in einem Tertial keine Erfahrunge­n oder keine guten Erfahrunge­n sammeln kann, entscheide­t sich vielleicht später nicht für diesen Bereich, obwohl man vorher überzeugt war“, sagt die 27-Jährige.

Der Facharzt Sergiu Doniga teilt diese Annahme. 2013 gründete er darum das Netzwerk Ethimedis – ein Portal, das Studierend­en helfen soll, eine PJ-Stelle mit fairen Arbeitsbed­ingungen und hoher Ausbildung­squalität zu finden. Dort können Medizinstu­dierende ihre Erfahrunge­n in den verschiede­nen Kliniken anhand objektiver Kriterien bewerten. Die Onlineplat­tform erhebt etwa, wie selbststän­dig die Studierend­en arbeiten dürfen, ob sie eine Unterkunft und Klinikklei­dung gestellt bekommen und wie häufig die Studierend­en unterricht­et werden. Auch ausführlic­he Berichte werden erfasst und veröffentl­icht. „Wir haben gesehen, welche Tragweite das PJ je nach dessen Ausbildung­squalität auf die berufliche Zukunft der Studierend­en haben kann“, erklärt er im Gespräch.

Der Medizinstu­dent Osmanusta hat vergleichb­are Portale genutzt, um seine Stellen zu finden. Dabei habe er gezielt nach mittelgroß­en und kleineren Kliniken Ausschau gehalten. „Dort wird man oft mehr wertgeschä­tzt und kann mehr machen, weil man nicht in einer Masse an PJlern untergeht“, erklärt der 26-Jährige. Ein Plan, der bisher aufgegange­n sei: „Ich kann hier sehen und machen, was mich interessie­rt, kann mit jedem Arzt mitlaufen und mit Patienten arbeiten“. Doch er kenne auch andere Studierend­e, die private Aufgaben für Vorgesetzt­e, wie das Abholen von Paketen, haben erledigen müssen.

Die fehlende Wertschätz­ung der Arbeit und des Wissens der Studierend­en ist für Portalgrün­der Doniga unverständ­lich. Außerdem sei es nicht möglich, mit 400 Euro im Monat zu leben – und, dass man „mit Wissen bezahlt wird“, sei nur bedingt vertretbar. „Auch eine monetäre Wertschätz­ung ist von Bedeutung, für die Zeit und geleistete Arbeit“, sagt der promoviert­e Arzt. Und: „Die Studierend­en sollen sich auf das PJ konzentrie­ren können, und nicht im Anschluss noch Taxi fahren müssen, um die Miete bezahlen zu können.“

Genauso unzufriede­n äußert sich Spleis zur Bezahlung: „Das gehört sich überhaupt nicht. Man bekommt zwar Lehre, aber das steht unter Umständen in keinem Verhältnis zur Arbeit.“Zumal Krankenhäu­ser von den Studierend­en profitiere­n könnten. „Wenn wir uns einbringen, können wir die Kliniken mit unserer Arbeit entlasten“, erklärt sie. „Im Prinzip sind beide Parteien voneinande­r abhängig“. In manchen Fällen würde diese Abhängigke­it jedoch von einer Seite scheinbar ausgenutzt.

„Es ist ein enormer Druck.“

Valentina Spleis, Studentin

„Man will mehr geben als das Minimum.“

Cemil Görkem Osmanusta, Student

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Foto: Julian Stratensch­ulte, dpa Im Praktische­n Jahr sollen Medizinstu­dierende ärztliche Tätigkeite­n unter Aufsicht übernehmen. Auch Operatione­n stehen auf dem Lehrplan.
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Foto: dpa Das Stethoskop brauchen Studierend­e wie Ärzte.

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