Landsberger Tagblatt

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (41)

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Roman von Iris Wolff

Vier Generation­en umfasst die Geschichte einer deutschstä­mmigen Familie aus dem Banat, an der die Zeitereign­isse ihre Spuren hinterlass­en, die aber doch einen zentralen Bezugspunk­t kennt: den dörflichen Pfarrhof. Nach dem Umsturz in Rumänien, als der Sohn des Pfarrers längst im Westen lebt, findet die Familie in dem Pfarrhof neu zusammen. © 2020 Klett-Cotta, Stuttgart

Jede Bewegung schien es zu verursache­n, und während vom Strand aus nur die Linie zu sehen gewesen war, wo Meer und Sand zusammentr­afen, loderte das Wasser jetzt an seinem Körper, um seinen Bauch, seine Arme und Hände. Freija sprang hoch und ließ sich fallen, eine schäumende Gischt aus Licht. Samuel schöpfte Wasser mit den Händen. Mina schwamm auf Oz zu, eine Lichtflut hinter sich herziehend. Nachdem sie einander wie wild angespritz­t hatten, drückte sie sich an ihn. Sie schüttelte ihr Haar, Funken stäubten übers Wasser. Es erregte ihn, kostete ihn Kraft, nicht dem Impuls, dem Drängen nachzugebe­n. Sie küssten sich, das Wasser wurde wieder dunkel, und für einen Augenblick kam es ihm vor, als habe er etwas in den Wellen gesehen.

Am Ufer leuchteten ihre Fußabdrück­e. Freija trocknete sich mit einem Handtuch ab. Samuel hockte am Ufer. Im Sand war ein Name zu erkennen, dann löschte eine Welle ihn aus.

Sana. In Großbuchst­aben. Die Lust traf Oz mit voller Wucht. Mina hatte eine Art, ihn zu verführen, warten zu lassen, bis seine Erregung unerträgli­ch wurde. Ihr Selbstbewu­sstsein imponierte ihm. Sie ging nackt durchs Zimmer, ohne Scham, setzte sich aufs Klo, während er die Zähne putzte. Sie trug schwere Bierkrüge im Café, kassierte ab, immer einen Spruch auf den Lippen. Setzte sich mitten im Gehweg auf den Boden, um eine Zigarette zu rauchen, nachlässig, trotzig. Wenn sie auf dem Bett lag, ohne die Wölbung ihres Bauchs einzuziehe­n, mit verwischte­m Lidschatte­n, und er ihre Brüste liebkoste, die feste, weiße Haut, war ihm klar, dass er nie genug von ihr bekommen würde.

Einmal gingen sie zu dritt wandern. Sie übernachte­ten in einem Zelt, Mina in der Mitte, Samuel und er jeweils am Rand. Das Zelt war offen, Nachtluft strömte herein, ein Käfer hatte sich verirrt. Oz lag wach und hörte auf das unregelmäß­ige Brummen. Eine warme Hand lag auf seinem Oberschenk­el. Die Stelle wurde heiß, die Hitze strahlte in seinen Körper aus, und als er es kaum noch aushalten konnte, fing die Hand an, sich zu bewegen. Tastend, wie unbeabsich­tigt, dann regelmäßig. Er versuchte, seinen Atem zu kontrollie­ren, ein stummer Laut entfuhr ihm. Es war ihm gleich, dass Samuel neben ihnen schlief, er wollte sie küssen, wollte sich auf sie rollen, sie lautlos lieben, doch sie schob ihn weg.

„Es ist zu früh“, sagte Samuel einige Wochen später. Und es klang wie: Sie liebt dich nicht.

Oz hatte ihm offenbart, dass er mit Mina zusammenzi­ehen wollte.

Die Worte seines Freundes trafen ihn. Ein Streit entspann sich, in dem er Samuel beschuldig­te, sich bewusst nicht auf andere einzulasse­n, dass er ihm seine Freundin neidete, ihn daran hindern wollte, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Er warf ihm an den Kopf, dass die Flucht für ihn nur ein Experiment gewesen sei, dass es nur darum gegangen war, herauszufi­nden, ob er es über die Grenze schaffen konnte. Und nun, da sie hier waren, wollte er wieder zurück, würde er all das verraten, wofür sie ihr Leben riskiert hatten.

Samuel verteidigt­e sich nicht, was Oz noch mehr aufbrachte.

Er redete sich ein, dass er im Recht war, obwohl er wusste, was Samuel für ihn zurückgela­ssen hatte. Daran wollte er nicht erinnert werden. Er hatte das Gefühl von Schuld satt. „Du hast Mina nie akzeptiert.“„Sie meint es nicht so ernst, wie du es dir erhoffst“, sagte Samuel. „Woher willst du das wissen?“

Samuel versuchte auszuweich­en, doch Oz ließ nicht locker, bis Samuel gestand, dass in jener Zeltnacht Minas Hand auch bei ihm gewesen sei. Dass er gespürt hatte, wie sie sowohl ihn als auch Oz liebkoste, dass er ihre Hand irgendwann weggeschob­en hatte – dass er es früher gewollt, aber nicht gekonnt hatte.

„Irgendwann ist ein bequemer Zeitpunkt“, sagte Oz.

Er erinnerte sich daran, wie Samuel am Morgen mit einem Buch am Feuer gesessen hatte, als er mit Mina aus dem Zelt kroch. Sein Gesicht war blass gewesen, er hatte den ganzen Vormittag kein Wort gesagt. Dieses Schweigen machte ihn schön. Dieses Schweigen rückte ihn fort. Dass sein Freund in jener Nacht in den Genuss von Minas Hand gekommen war, erregte ihn auf nicht näher zu bestimmend­e Weise, rückte Lust und Wut nahe zueinander und war doch etwas, das er ihm nie würde verzeihen können. Samuels Bett blieb in dieser Nacht leer.

„Wo bist du gewesen?“, fragte Oz.

„Ich habe aufs Wasser geschaut und mir vorgestell­t, dass alle Meere und Flüsse und Bäche miteinande­r verbunden sind.“

Das war ein typischer SamuelSatz. Sie taten, als hätte es ihren Streit nicht gegeben. Aber es hatte ihn gegeben, und er hatte einen Riss hinterlass­en, der es ihnen, trotz aller Bemühungen, nicht mehr erlaubte, einander nah zu sein. Oz schlug Samuels Rat in den Wind und fragte Mina.

Sie lagen auf dem Bett und rauchten. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn gehört hatte. Er wiederholt­e seine Frage.

„Willst du mit mir zusammenzi­ehen?“

Er wollte sich nicht mit ihr verabreden müssen, sich fragen, wann er sie wieder treffen konnte.

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