Zwischen May und Marx
Reiner Boller blickt auf Teutonen-western, einen schillernden Bastard der deutschen Filmgeschichte
Am 9. Juli 1963 ist für Herstellungsleiter Erwin Gitt Schluss mit Gemütlichkeit. „Bei unseren Hauptstars hat man immer das Gefühl, dass sie arbeiten, weil es eine Notwendigkeit ist“, schreibt er an RialtoChef Horst Wendlandt. Seine Hauptstars heißen Lex Barker und Pierre Brice, die für „Winnetou I“offenbar nur lustlos in Jugoslawien gesattelt haben. Der Franzose kommt gern verspätet zur Maske, der Amerikaner pocht auf einen Wohnwagen, Erwin Gitt drücken die vier Millionen , die das Karl-may-abenteuer kosten soll.
Besser wird es nicht mit den eitlen, trägen Importstars. Regisseur Harald Reinl 1968 über den Dreh von „Winnetou und Shatterhand im Tal der Toten“: „Männer, die Männer sein wollen, aber nur durch satte Faulheit auffallen, sind schlimmer als Frauen. Das schwierigste ist, die beiden aufs Pferd zu bekommen. Jeder will der letzte sein ... Je mehr Erfolg sie haben, desto schlimmer wird es.“Die Briefe und Berichte um die Drehs mit den Diven (Steward Granger ist der Dritte) gehören zu den interessantesten Dingen, die Reiner Boller in seinem opulenten Blick auf den Western-bastard aus Germany ausbreitet. Dass er dann jedoch ihre Gagen nicht nennt, dafür lobt er sich selbst. Seltsam …
Natürlich ist Reiner Boller vor allem von den Karl-may-filmen der Rialto und Arthur Brauners CCC fasziniert. Da lässt er jedenfalls jede kritische Distanz fallen, zeigt aber in Briefen, wie mit den Originalen des erzgebirgischen Fabulierers nach Ende des Rechteschutzes umgesprungen wurde. Ob im Werktreue-streit zwischen Constantin-chef Gerhard F. Hummel und Wendlandt oder bei rigorosen Anmerkungen Horst Wendlandts zu „Winnetou II“, Sieger bleibt immer der Film-mogul.
Seine zentrale These notiert Karl-mayFilmfan Reiner Boller in der Mitte des Buches: Ohne die deutschen Verfilmungen hätte es keine europäische Westernwelle gegeben. Da könnte was dran sein, auch wenn die biederen heimischen Produkte sich doch deutlich von den harten Nachfolgern aus Italien (oder Frankreich: „Friedhof ohne Kreuze“) unterscheiden.
Reiner Boller beginnt seine Chronologie „Wilder Westen made in Germany“in der Stummfilmzeit, sieht sich einige Versuche im Dritten Reich an (die aber herzlich wenig mit dem klassischen Western zu tun haben), erzählt von putzigen Musical-western und Freddy Quinn – bis er endlich mit dem „Schatz im Silbersee“den Schatz des bundesdeutschen Kinos der 1960er-jahre hebt. Dabei sind die Karl-may-adaptionen zwar an der Kasse die erfolgreichsten, aber durchaus nicht die einzigen Western-versuche. Wobei man von Indianer-abenteuern reden sollte, denn echte Teutonen-western sind eher „Die schwarzen Adler von Santa Fe“(Pop-folker Ronny singt schon mal „Kenn’ ein Land“), „Heiß weht der Wind“(peinlich hölzern) oder „Sie nannten ihn Gringo“(durchaus gelungen). Erstaunlicherweise vereinnahmt Boller, weil deutsches Geld drinsteckte und deutsche Darsteller spielten, auch Klassiker des Italowestern. Was Quatsch ist. Sergio Leone stand der Commedia dell’ arte immer näher als Karl May. Dafür analysiert Boller knapp und treffend, warum deutsche Western bald im Sonnenuntergang ritten.
Irgendwann muss Reiner Boller auch auf die Indianerfilm-produktion der Defa kommen. Da taucht dann zwar der eine oder andere interessante Fakt auf, häufiger jedoch Vorurteile und Fehleinschätzungen. „Der Spur des Falken“, um nur den zu nehmen, kann es in seinen Actionszenen nämlich durchaus mit westlichen Leinwand-attacken aufnehmen. Dass die „Junge Welt“ein marxistisch geprägtes Blatt war, hat nichts mit dem Buchthema zu tun, stimmt aber, doch dass sich Karl Marx (1818–1883) mit Mexikos Revolution (1910–1920) befasste, ist sehr unwahrscheinlich. In „Die Präriejäger in Mexiko“geht es ja auch um die Interventionskriege und Benito Juarez. Keine Frage, dass der Bogen, den Boller ums DefaStandardwerk „Zwischen Marx und Muck“(Henschel 1996) schlägt, groß ist.
Ohnehin fällt auch in den Defa-kapiteln auf, dass so eindeutige Urteile wie sie einst Joe Hembus im „Western-lexikon“aussprach, nicht die Sache von Reiner Boller sind. Die überragende Qualität von Thomas Arslans „Gold“erkennt er so wenig wie die von Andreas Prochaskas grandiosem „Das finstere Tal“(der einzige wirkliche deutsche Western!) – und dass Südafrika kein Drehort für Western ist, hat Kristian Levrings „Salvation – Spur der Vergeltung“faszinierend widerlegt.
„Wilder Westen…“tritt mächtig über die Ufer, wenn er schließlich Jack London-filme einbezieht – und Südamerika als Western-ort entdeckt. Das trifft wohl auf „Severino“(Defa) zu, aber Werner Herzogs „Aguirre, der Zorn Gottes“oder „Fitzcarraldo“sind sicher keine Western. Beim Dazurechnen ging dann immerhin einer der wohl interessantesten Western verloren: Hans W. Geißendörfers „Carlos“(1971). Zusammen mit „Potato Fritz“beweist er, wie wenig der Neue Deutsche Film mit diesem Genre anfangen konnte. Dass die späteren Annäherungen an Winnetou (auch die ausgezeichnete von RTL) ausführlich zu ihrem Recht kommen, ist Reiner Bollers faktenreichem Buch – trotz aller Einwände – ebenso anzurechnen wie die vielen interessanten Porträts über Gesichter des (west-)deutschen Westerns. Reiner Boller: Wilder Westen made in Germany. Mühlbeyer Filmbuchverlag:
524 Seiten (mit Fotos), 29,90 Euro (Print), 19,99 Euro (E-book)