Einmal Deutschland und zurück
Der Tunesier Walid T. hat geschummelt, als er 2015 nach Deutschland kam. Er suchte kein Asyl, er suchte nur sein Glück. Am Ende musste er zurück. Doch Walid T. hat schon wieder neue Pläne. Er kann Deutsch, er hat viel gelernt – und träumt jetzt vom eigene
TUNIS. Es muss ihm wie eine Niederlage vorkommen. Denn eigentlich hatte Walid T. doch so viel aufgegeben, um nicht hier zu landen. Nicht in Tunis, nicht im Jobcenter. Er wollte doch gerade raus aus seinem Heimatstaat, raus in die Welt, nach Europa, nach Deutschland. Um dort Arbeit zu finden und endlich auch ein besseres Leben.
Stattdessen sitzt er nun in diesem kleinen Raum mit den großen Fenstern. An den Wänden hängen Plakate, auf denen von Ausbildungsmöglichkeiten die Rede ist, von Arbeit in Tunesien, nicht in Europa.
Walid T. ist ein sogenannter Rückkehrer. Man könnte auch sagen: Walid, der tunesische Taxifahrer, wollte ein Flüchtling in Deutschland werden – und ist gescheitert.
„Es war alles komplizierter, als ich dachte“, sagt der 37-Jährige und hebt die Schultern. Rund zwei Jahre hat seine Reise, die eigentlich eine Irrfahrt war, gedauert.
Dabei fing für ihn alles ganz reibungslos an. Im Sommer 2015 verabschiedete er sich von seiner Frau und seinem zwei Jahre alten Kind, um sich auf die Reise nach Europa zu machen. „Das war ein schwieriger Moment“, sagt er. Er tat es trotzdem. In der Hoffnung, seine Familie nachholen, ihnen ein besseres Leben bieten zu können.
Walid T. hatte nach der Schule eine Lehre als Bäcker gemacht. Sein Leben war auch für tunesische Verhältnisse bescheiden, aber leidlich geordnet. Doch dann kam die Revolution. 2011 begann der arabische Frühling. Die Jahrzehnte andauernde Diktatur in Tunesien wurde hinweggefegt – und hinterließ nicht nur Freiheit, sondern auch Chaos. Die Wirtschaft geriet in die Krise, Strukturen brachen auseinander. Walid wurde Taxifahrer in Tunis. Doch das Geld reichte vorne und hinten nicht. „Hätte ich hier einfach weiter auf bessere Zeiten warten sollen?“, fragt er.
Der Zeitpunkt schien günstig. Die Eskalation des Krieges in Syrien und die vielen Flüchtlinge hatten das europäische Grenzregime teilweise ausgehebelt.
Walid T. steigt nicht auf ein Schiff, um das Mittelmeer zu überqueren. „Das war mir zu gefährlich.“Stattdessen beantragt er ein Touristenvisum für Italien und macht sich auf die Reise. Zuerst, ganz legal, nach Genua. Dann mit dem Zug weiter nach München. Das war im Herbst 2015, zur Hochphase der Flüchtlingsankünfte. Es war die Zeit, als jeder Flüchtlingszug in München begrüßt wurde wie Laura Dahlmeier auf der Zielgeraden des Gesamtweltcups. Rührend herzlich, aber auch ein bisschen überdreht, unwirklich. Walid jedenfalls hat damals das Gefühl, er habe alles richtig gemacht. „Ich fühlte mich gut aufgenommen“, sagt er. Er schlägt sich von München weiter bis nach Hamburg durch, beantragt Asyl.
Mit Youtube-videos habe er sich auf die Fragen der Beamten und sein neues Leben als Flüchtling in Deutschland vorbereitet, erzählt er. „Im Internet kann man alles lernen, was man braucht.“Was er danach wusste: Tunesien ist kein gutes Herkunftsland für einen Flüchtling. „Man muss seinen Pass verlieren und dann überlegen, wo man eigentlich herkommt“, sagt er. Zwar funktioniert in Tunesien längst nicht alles, wie es soll, aber stichhaltige Asylgründe und Verfolgung gibt es hier selten. Nur den wenigsten Flüchtlingen aus dem Staat bescheinigen deutsche Behörden einen Asylgrund. Auch Walid fällt eigentlich keiner ein. Er sucht kein Asyl, er sucht das Glück. Er entscheidet sich für eine Legende. Er sei Palästinenser aus dem Bürgerkriegsland Libyen, gibt er an. Doppelt hält besser.
Es wirkt seltsam heiter, wie der Mann mit den wachen Augen und dem etwas verschwörerischen Schmunzeln um den Mund von all dem erzählt. Er ahnt vielleicht, dass er mit seiner Geschichte in Deutschland Vorurteile bedient. Walid hat das deutsche Asylsystem ausgenutzt, er hat sich Leistungen erschlichen und gelogen.
Und doch hat es eine eigene Logik, die aus dem tunesischen Taxifahrer einen libyschen Flüchtling werden ließ. In Walid T.s Welt geht es nicht um „Asylbetrug“, es ging ihm auch nicht zuvorderst um Geld vom deutschen Staat. Für Walid T. ging es darum, seinem Leben als Taxifahrer zu entfliehen. Ein tunesischer Mittdreißiger, der die Chance ergreift, seinem Leben eine glückliche Wendung zu geben. In einem stabilen, reichen und geordneten Land. Zur Not eben
Ich würde es wieder tun. Walid T., tunesischer Rückkehrer
als libysch-palästinensischer Flüchtling.
Es war kurz vor Walid
T.s 30. Geburtstag, als in Tunesien die Revolution ihren Anfang nahm, die bald die gesamte arabische Welt erfasste. Während der arabische Frühling in den meisten Ländern nur eine Diktatur durch die nächste abgelöst hat, haben sich die Tunesier seitdem eine Demokratie erkämpft. Nach Jahrzehnten der diktatorischen Herrscher ist das ein Wert an sich.
Doch die Transformation ist mühsam. Auch sieben Jahre später ist die Korruption ein großes Problem in der Verwaltung. Politiker und Volk sind keine Profis in Sachen Demokratie. In Kürze gibt es die ersten Kommunalwahlen im Land. Die Wirtschaft ist nicht sehr konkurrenzfähig, das Gefälle zwischen der prosperierenden Küste und dem abgehängten Süden wird größer. Der Terror hat zudem viele Touristen verschreckt. Die Arbeitslosigkeit gerade bei jungen, auch gut ausgebildeten Tunesiern ist sehr hoch. Das Bildungssystem produziert Hunderttausende Akademiker, für die es keine Jobs gibt. All das macht es den vielen jungen Männern und Frauen nicht ganz leicht, die Vorzüge der entstehenden Demokratie zu erkennen.
Asylbewerber Walid T. verschlägt es 2015 in den niedersächsischen Landkreis Harburg vor den Toren Hamburgs. Er lernt dort einige Freunde kennen, kann bald ein bisschen Deutsch, wohnt in einer Flüchtlingsunterkunft mit Menschen aus dem Sudan, dem Libanon und Syrien.
Walid bekommt etwas Geld vom Staat, zusätzlich die Genehmigung, ein Praktikum zu machen. Drei Monate jobbt er in einem Restaurant. Später verdient er sich schwarz ein Zubrot als Reinigungskraft in einem Hotel im Hamburger Stadtteil Wellingsbüttel. Stolz sagt er den Namen des Hotels. Zeigt eine Visi- tenkarte, seine Aufenthaltsgestattung mit dem Bundesadler – und schließlich seine Ersatzpapiere vom tunesischen Konsulat. Es sind die Beweise seiner Reise. Und letztlich auch die Zeugen seines Scheiterns.
Damals, in Hamburg, sagt er, habe er oft seine Familie vermisst. Aber die Hoffnung treibt ihn an. Darauf, dass er, Walid, den schon einmal eine Revolution zurückgeworfen hatte, dieses Mal zu den Gewinnern der Zeitläufte gehört.
Doch die Politik der offenen Grenzen ist nicht von langer Dauer. Nachdem sich in Deutschland das Einreisechaos gelegt hat und die Hilfsbereitschaft in Teilen der Bevölkerung auch, wird aus dem Flüchtling aus Libyen auch in den Augen der deutschen Behörden ein Glücksritter aus Tunesien. Hinzu kommt der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 – verübt von einem islamistischen Tunesier, der, wie Walid, als Flüchtling über Italien nach Deutschland kam.
Von da an wird das Leben schwieriger. Fünfmal muss er zu den Behörden, wird befragt, erzählt er. Der Druck steigt.
Zeitweise hängt ein Seil aus dem Fenster seiner Unterkunft – für den Fall, dass die Polizei kommt, um ihn zu holen. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Frühjahr 2017 nach einem Gespräch mit Tunesiens Regierungschef verkündet, illegal eingereiste Tunesier sollten nun schnell zurückgeführt werden, gibt Walid bald auf. „Die Anspannung wurde zu groß, ich wollte nur noch nach Hause zu meiner Familie“, sagt er. Er steigt in einen Zug, dann in ein Schiff. Und das Abenteuer Europa ist zu Ende.
Das ist nun ein halbes Jahr her. Walid T. fährt heute wieder Taxi in Tunis, so wie vor der großen Reise. Ein zweites Kind ist unterwegs, er will sich nun in Tunis um seine Familie kümmern. War die Flucht ein Fehler? „Nein, ich würde es wieder tun, ich habe viel erlebt und Deutsch gelernt“, sagt er. „Und ich bin sauber geblieben.“So sieht er das. Im Jobcenter in Tunis hat er sich nach seiner Rückkehr nach Beschäftigungen erkundigt – und stieß auf ein Angebot der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Im Auf-
trag der Bundesregierung betreibt die Organisation seit einem Jahr ein eigenes Programm für Rückkehrer und Ausreisewillige. Ihnen sollen dort legale Möglichkeiten aufgezeigt werden, sich um offene Stellen in Deutschland zu bewerben. Etwa in der Pflege oder im It-bereich werden Arbeitskräfte dringend gesucht – wenn sie ausreichend Deutsch sprechen und eine entsprechende Ausbildung haben. Gleichzeitig sollen Geflüchtete, die freiwillig zurückkehren oder abgeschoben wurden, in ihrer Heimat bei der Jobsuche unterstützt werden. Auch das war Teil des Flüchtlingsdeals mit Tunesien. Es gibt Ausbildungsprogramme und Coachings, Umschulungsangebote und Unternehmensmessen, und in Zusammenarbeit mit den Franzosen auch Hilfe bei der Existenzgründung.
Walid ist gerade in solch ein Programm aufgenommen worden. Er lernt nun, wie man Businesspläne schreibt und seine Ideen präsentiert. Außerdem wurde ihm von französischen Entwicklungshelfern ein Startkapital von einigen Tausend Euro in Aussicht gestellt. Damit will er schon bald in Tunis ein kleines Café aufmachen. „Reeperbahn“will er es nennen. Er sagt, das klinge so schön deutsch.
„Die Anspannung wurde zu groß, ich wollte nur noch nach Hause“: Die Ausweisersatzpapiere der tunesischen Botschaft machten aus dem angeblichen Flüchtling wieder den Taxifahrer aus Tunis.
„Man muss seinen Pass verlieren und dann überlegen, wo man eigentlich herkommt“: Rückkehrer Walid T. in Tunis.