Ein gelebter Roman
Francis Nenik rekonstruiert in „Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert“Hasso Grabners Biografie
„Hasso Grabner, der Schriftsteller, Chronist einer Groteske namens Geschichte“, er ist immer genau dort, „wo diese Geschichte gemacht wird“. So schreibt der Leipziger Autor Francis Nenik, ein Pseudonym, in seinem Buch „Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert. Das irrwitzige Leben des Hasso Grabner“über seinen Titelhelden. Eine Person, die man für eine Romanfigur halten möchte, so abenteuerlich verlaufen die Wendungen dieser Biografie.
Grabner überlebt Kz-haft ebenso wie den Einsatz als Kanonenfutter in Wehrmachtsuniform, um in der DDR schließlich zwischen hohen Positionen und Degradierungen hin- und herzupurzeln. Ein ehemaliger kommunistischer Widerstandskämpfer, der immer wieder den Kopf aus der Schlinge zieht, 1958 beginnt, als Schriftsteller zu arbeiten, von der Stasi ab 1961 überwacht, regelmäßig vor die Bezirksparteikommission zitiert, 1965 mit inoffiziellem Publikationsverbot belegt.
Aber das Buch ist kein Roman, Grabner keine Fantasie. 1911 in Leipzig geboren griff er beherzt in den Lauf der Geschichte ein und hat doch wenige Spuren hinterlassen. Nenik hat sie aufgespürt, sich in Archive vergraben und mit Grabners Witwe Sigrid Grabner unterhalten. „Hasso Grabner war zu klein, um aufzufallen, und zu groß, um von der Geschichte immer nur mit weggerissen zu werden“, schreibt Nenik im Nachwort.
An Dokumenten, an Belegen, an Schriftstücken mangelt es. Und so ist keine Biografie im engeren Sinne entstanden. Wo sich Spuren verlieren, zeichnet Nenik ein genaues Bild der historischen Bedingungen, in denen sich Grabner zurechtfinden musste und wagt sich mit Lust an Details. Mit Vorliebe an jene, die voll widersprüchlicher Ironie stecken, so wie Grabners Leben selbst. Grabner versieht als Wehrmachtsfunker auf Korfu seinen erzwungenen Dienst, und Nenik breitet etwa genussvoll die bizarre Kompetenzverwirrung sowohl von griechischen Befreiungsgruppen als auch Nazi-dienststellen auf. Biografie und Geschichte spiegeln sich in diesem Buch wechselseitig. Und der Autor tritt immer wieder einen Schritt vom Geschehen zurück, bringt sich als wertende Instanz ein und zeigt, wo die Grenzen der Fakten verlaufen.
Nenik führt mit unbekümmerter Fabulierlust gewitzt durch die Zeit, allerdings gerät die Suche nach Pointen und Sprachspielchen mitunter etwas umständlich – oder an den Rand des Zynismus: Amerikanische Bomber ziehen über das Lazarett. „Als sie wieder weg sind, ist die Zahl der Verletzten in den Baracken deutlich gesunken.“
Grabner war zufällig im Garten unterwegs und hat knapp überlebt. So wie zuvor die Flucht über den Balkan zurück in die letzten Tage des Deutschen Reiches, als er gegen seinen Willen das Eiserne Kreuz II. Klasse verliehen bekommt. Überlebt hat er auch das Erschießungskommando auf Korfu wegen Verrats. Es war nur inszeniert als erzieherische Maßnahme. „Das nächste Mal wird’s ernst, du Kommunistenschwein“, zitiert Nenik einen Offizier. Ebenso hat Grabner das KZ Buchenwald überstanden, interniert als Kommunist. Kommunistische Seilschaften im Lager verhalfen ihm zu einem Job in der Lager-bibliothek. Die Stasi bewertete das zu ihren Zwecken später so: „Grabner spielte während der Zeit des Faschismus eine unrühmliche Rolle, indem er sich im KZ eine Sonderstellung erschlich und sich von den Genossen abkapselte.“
Immer wieder zeigt sich die Ironie der Geschichte an Grabner. Er, der als Kommunist von den Nazis verfolgt wurde, wird, als er der SED unbequem wird, mit den Nazis in Verbindung gebracht. Dabei ging es für das Organisations-genie zunächst steil bergauf als 49-Tage-chef des 1946 neu gegründeten MDR. Danach leitete der gelernte Buchhändler alle ostdeutschen Stahlwerke und wurde Aufbauleiter des Kombinats „Schwarze Pumpe“. Immer mit eigenen Kopf und argumentativer Selbstsicherheit. Auch in der Lyrikdebatte, als er den Vierzeiler eines Leipziger Dichters verteidigt. Von der SED gesteuert wird Grabner dafür öffent- lich demontiert, unter anderem in der LVZ. „Publizistisch ist Grabner damit erledigt“, schreibt Nenik. Bereits fertige Bücher werden nicht verlegt.
Nenik zeichnet Grabner ohne zu psychologisieren als Mann von grenzenlosem Schaffenseifer und seltenem Mut. Ein Stehaufmännchen mit klarem moralischem Kompass, der das sich wiederholende Prozedere in der DDR – „Rüge, Funktionsentzug, für zwei Jahre ab in die Produktion“– 1958 leid ist: „Hasso Grabner jedenfalls hat keine Lust mehr auf den ganzen Firlefanz – und erklärt sich kurzerhand zum freischaffenden Schriftsteller“.
Nenik setzt dem 1976 gestorbenen Grabner mit seinem Buch ein bemerkenswertes Denkmal, das es bereits auf die 30 Titel umfassende Hotlist der besten Bücher aus unabhängigen Verlagen 2018 geschafft hat. Voland & Quist hat es im Paket mit einer Audio-cd veröffentlicht: Büchner-preisträger Marcel Beyer liest Auszüge daraus.