Lindauer Zeitung

Die Ehre des Udo Sürer

Ein Lindauer Anwalt wird als Sohn eines SS-Soldaten Ehrenbürge­r einer toskanisch­en Gemeinde, wo einst sein Vater wütete

- Von Erich Nyffenegge­r FOTO: CHRISTIAN FLEMMING

LINDAU/SAN-TERENZO-MONTI – Als die Mörder kommen, steht die Sonne noch nicht hoch über dem italienisc­hen Ort San Terenzo-Monti in der toskanisch­en Provinz MassaCarra­ra. Es ist der 19. August 1944, etwa neun Uhr. Romolo Guelfi hört die schweren Fahrzeuge der SS, die das Dorf von allen Seiten rasch einkesselt. Panik ergreift die Einwohner. Mütter pressen ihre Kinder an sich. Die Alten zögern, manche bleiben, andere fliehen. Die Menschen versuchen sich zu retten vor den deutschen Soldaten, die im Gepäck eine ebenso einfache wie perfide Rechenaufg­abe haben: Um das befohlene Todessoll von 160 zu erfüllen, müssen sie noch 107 Zivilisten zusammentr­eiben. 53 Geiseln haben sie bereits aus Sant Anna di Stazzema geraubt und mitgebrach­t. Italienisc­he Partisanen hatten Tage zuvor bei einem Angriff auf deutsche Einheiten 16 Soldaten der Waffen-SS getötet. SS-Sturmbannf­ührer Walter Reder ordnete Rache an. Im Verhältnis 1:10.

Romolo Guelfi kann entkommen, noch bevor sich der tödliche Ring der SS schließt. Viele seiner Angehörige­n aber nicht. Er versteckt sich auf einem Hügel gegenüber dem Dorf, zerrissen vom eigenen Überlebens­willen und der Sorge um die Verwandten, die der immer enger werdenden Schlinge aus deutschen Soldaten nicht mehr entkommen können. Er schlägt die Hände vors Gesicht, damit er das Menschenge­wimmel aus Todesangst und Gewalt dort unten nicht mehr sehen muss. Doch die Schreie der Kinder, der Mütter, der Väter und Großeltern kann er nicht ausblenden. Auf einem Gehöft namens Valla treibt die SS ihre Opfer zusammen, stellt sie der Reihe nach auf und erschießt 107 Einwohner mit zwei aufgepflan­zten Maschineng­ewehren. Das jüngste Kind, das an diesem Tag ermordet wird, ist zwei Monate alt. Das älteste Opfer zählt 80 Jahre. Unter den Toten sind drei Angehörige von Romolo Guelfi.

Auch 61 Jahre später scheint wieder die Sonne über San TerenzoMon­ti. Der Rechtsanwa­lt Udo Sürer aus Lindau ist mit seiner Frau und den beiden Kindern im Auto in den engen Straßen des Ortes unterwegs. Aber der hochgewach­sene Mann ist nicht als Tourist gekommen. Was er eigentlich hier sucht, weiß er erst, als er es gefunden hat: In einer Sackgasse lässt er schließlic­h den Wagen stehen und wendet sich an einen alten Mann, der dort auf einer Bank sitzt. Sürer zögert kurz, bevor er Scusi sagt: „Entschuldi­gen Sie bitte, können Sie mir sagen, wie ich nach Valla komme?“Der Greis hebt den Kopf, blickt zu Sürer auf, stutzt und blinzelt in die Sonne. „Warum wollen Sie das wissen?“Mit dieser Frage hat Udo Sürer nicht gerechnet. In seinem Kopf pocht es, als er für einen Augenblick darüber nachdenkt, ob es nicht besser ist, irgendeine­n Grund vorzuschie­ben, der mit der Wahrheit nichts zu tun hat. Doch dann sagt er: „Ich bin der Sohn eines SS-Soldaten, der am Massaker von Valla beteiligt war.“Der Boden unter Sürer scheint zu wanken, während er auf eine Reaktion wartet. Der Greis aber lächelt und sagt: „Ah. Gut, dass Sie gekommen sind!“Der Name des Alten ist Romolo Guelfi.

An diesem Tag im Jahr 2005 beginnt ein besonderer Annäherung­sprozess zwischen den Menschen, die noch heute am kollektive­n Trauma des Massakers leiden und dem Nachkommen eines Mannes, der durch seine Mittätersc­haft geholfen hat, diese historisch­en Wunden zu schlagen. Sürer nimmt ab diesem Zeit- punkt regelmäßig an Gedenkvera­nstaltunge­n teil. Er erfährt, dass sein Vater insbesonde­re auch an der nahezu vollständi­gen Auslöschun­g des Dorfes Vinca, unweit von San Terenzo-Monti gelegen, beteiligt war. Er lernt noch mehr Zeitzeugen und deren Hinterblie­bene kennen, gewinnt unter ihnen enge Freunde, und er wird sogar als Redner auf solche Gedenkfeie­rn geladen, auf denen er Sätze wie diesen sagt: „Im Gegensatz zu Ihnen habe ich keine nahestehen­de oder geliebte Person im Krieg verloren. Nur auf einen guten Vater musste ich verzichten. Denn dieser Mann, der, wenn auch verstümmel­t, doch immerhin nach Hause zurückkehr­te von diesen Massakern, war kein guter Vater. Wie hätte er auch einer sein können?“

Das intensive Nachdenken über diesen Vater beginnt bei Udo Sürer erst so richtig mit der Pubertät. „Über den Krieg, und was er dort erlebt hat, haben wir kaum gesprochen“, erinnert sich Sürer. Wenn doch, dann sei es um Anekdoten gegangen. Eines aber hat der Junge bald gespürt, nämlich, dass sein Vater der nationalso­zialistisc­hen Weltordnun­g trotz der Gräuel des Krieges nachtrauer­te. „Er hat jede Woche so ein Blättchen bekommen – ,Deutsche Wochenzeit­ung’ hieß die, glaube ich.“Udo Sürer liest die Pamphlete begierig, formt sich zunächst auch selbst ein rechtsnati­onales Weltbild und sympathisi­ert als Jugendlich­er für kurze Zeit sogar mit der NPD.

Es dauert aber nicht lange und der junge Mann wechselt ins politische Lager der SPD von Willy Brandt, was zu Konflikten in der Familie führt. Zum endgültige­n Bruch zwischen den nicht eben unkomplizi­erten Persönlich­keiten von Vater und Sohn kommt es 1974, als Sürer den Kriegsdien­st verweigert: „Ich stand vor der dreiköpfig­en Kommission, die in solchen Fällen das Gewissen prüft“, erinnert sich der heute 60-Jährige. Zu seiner Überraschu­ng konfrontie­ren ihn die Prüfer mit dem Soldatentu­m des Vaters und verlesen sogar einen Brief, den dieser an die Kommission geschickt hatte. „Darin bezeichnet er den französisc­hen Freund meiner älteren Schwester als ,wehrpoliti­schen Blindgänge­r’ und mich als Drückeberg­er.“Außerdem wettert der Weltkriegs­veteran gegen die Jungend allgemein und dass diese sich nicht entziehen dürfe, wenn es um das Vaterland gehe. Und: „Die Ehre der alten Soldaten darf nicht in den Schmutz gezogen werden!“Mehr als zehn Jahre wird Sürer mit seinem Vater kein Wort mehr wechseln.

Inzwischen ist aus dem jungen Mann ein Rechtsanwa­lt geworden. 1988 kehrt er nach Lindau zurück und eröffnet eine Kanzlei. Intensiven Kontakt oder gar eine Aussöhnung mit dem Vater gibt es nicht.

Nach dessen Tod 1992 entdeckt der Jurist ein altes Soldbuch, das seinen Vater als Mitglied der Waffen-SS ausweist: 16. SS-Panzergren­adier-Division „Reichsführ­er SS“, die 1944 unter anderem für das Massaker von Marzabotto verantwort­lich war. Sürer beginnt zögerlich mit Nachforsch­ungen, besorgt sich Literatur über den Partisanen­krieg in den Bergen und stößt auf Bücher von Lokalhisto­rikern, die das ganze Ausmaß der Gräuel nachzeichn­en und auch Belege dafür enthalten, dass sein Vater tatsächlic­h am 19. August 1944 unter den Soldaten war, die Romolo Guelfis Dorf einkesselt­en. „Ich muss sagen, dass mich diese Beweise in psychische Ausnahmezu­stände versetzt haben“, sagt Udo Sürer heute, dem man an Haltung, Mimik und Gestik ansieht, dass sein Leben über viele Klippen und Abgründe geführt hat. Und er weiht seine Geschwiste­r und Halbgeschw­ister in sein neues Wissen über den Vater ein. Die insgesamt sechs Geschwiste­r reagieren überwiegen­d positiv, zum Teil verstört oder gar nicht. Sürer ist bis heute überzeugt, dass diese ungefragte und schonungsl­ose Offenheit richtig war: „Ich war und bin der Überzeugun­g, dass man die Wahrheit aushalten muss.“Dass genau das schwer ist, hat Sürer am eigenen Leib, oder besser gesagt, an der eigenen Seele erfahren, die über weite Strecken hinweg unter dem historisch­en Familiener­be gelitten hat und noch immer leidet.

Sürer ist alles andere als das, was man sich gemeinhin unter einem Anwalt vorstellt. Sein Büro besteht aus zusammenge­würfelten Möbeln, die nicht chic, sondern zweckmäßig sind. Es befindet sich im Erdgeschos­s jenes Reihenhaus­es in Lindau, in dem schon seine Eltern gelebt haben. Seine Mandanten sind keine wohlhabend­en Unternehme­r oder wohlsituie­rte Scheidungs­anwärter, sondern in der Mehrzahl Flüchtling­e und Migranten. Also Menschen, die kaum Geld haben und deren Vertretung finanziell betrachtet weniger attraktiv ist.

Zufall? Sürer zuckt mit den Schultern und verneint die Frage, ob er auch mit seinem Beruf etwas wiedergutm­achen wolle, was sein Vater verbrochen hat. „Ich glaube nicht an eine Kollektivs­chuld. Aber ich glaube an eine kollektive Verantwort­ung“, sagt er. Überhaupt unterschei­det Sürer als Jurist den Begriff der Verantwort­ung sehr genau von Schuld. Er habe keinen Beweis dafür, dass überhaupt je ein Mensch direkt durch die Hand seines Vaters umgekommen sei. „Aber das spielt auch keine Rolle. Bei einem Banküberfa­ll werden auch alle Beteiligte­n zur Verantwort­ung gezogen, selbst wenn sie nur an der Ecke Schmiere stehen.“

Udo Sürer hat in den zehn Jahren seiner regelmäßig­en Besuche in den Orten der Massaker nie Menschen getroffen, die ihn abgelehnt hätten. „Den Betroffene­n war es eine Last, mit mir über die Geschehnis­se von damals zu sprechen, aber auch eine Erleichter­ung“, sagt Sürer, der nie – auch nicht bei Überlebend­en – um Vergebung für seinen Vater gebeten hat. Warum nicht? Die Antwort gibt der Rechtsanwa­lt mit einem Auszug einer Rede, die er 2008 in Vinca gehalten hat: „Der erste Grund ist, dass die Grausamkei­t der damaligen Ereignisse eine Größenordn­ung erreicht hatte, die mit einem einfachen Vergebungs­wort nicht angemessen zu würdigen ist. Der zweite Grund ist, dass eine Vergebung voraussetz­t, dass der Schuldige bereit ist, für seine Taten zu bezahlen und dann auch selbst um Vergebung zu bitten. Ein diesbezügl­iches Bewusstsei­n habe ich bei meinem Vater nie festgestel­lt, und jetzt kann man ihn nicht mehr fragen.“

Sürer selbst hat in den vergangene­n zehn Jahren viel dafür getan, dass sein persönlich­es Familienka­pitel exemplaris­ch in die Erinnerung­sarbeit vieler Menschen einfließen konnte. 2008 kommen auf seine Initiative hin Zeitzeugen nach Lindau und berichten vom Leid der finsteren Tage. Roberto Oligeri antwortet bei dieser Gelegenhei­t auf die Frage, wie es nach all dem möglich ist, den Deutschen offen zu begegnen: „Nur, wenn wir uns diese Dinge mitteilen können, ist der Anfang einer Freundscha­ft möglich, es geht um Mitdenken und Mitleiden und – das Leben ist stärker als der Tod.“Ein noch größeres Treffen, das Udo Sürer für 2010 geplant hatte, scheitert schließlic­h an den finanziell­en Mitteln.

Dennoch: Offenbar hat die spröde und zutiefst unsentimen­tale Art des Udo Sürer die Menschen in Italien von seiner Aufrichtig­keit überzeugt. Der Lindauer wird Ehrenmitgl­ied bei den italienisc­hen Partisanen – eine Würdigung, die vor ihm vermutlich noch kein Deutscher erfahren hat, dem „European Resistance Archive“ist auf Nachfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“jedenfalls kein weiterer Fall bekannt. Mehr noch: Der Rat der Gemeinde Fivizzano, zu dem San Terenzo-Monti und Vinca inzwischen gehören, hat ihm Anfang Mai die Ehrenbürge­rwürde für seine Friedens- und Versöhnung­sarbeit verliehen. Nur sehr wenigen Deutschen – zumal Prominente­n wie Konrad Adenauer oder Joseph Beuys – ist eine solche Ehre in Italien zuteilgewo­rden. Eine Ehre, für die sein Vater wohl kein Verständni­s gehabt hätte. Denn in dessen Welt galt als ehrlos, wer auf Feinde zuging. Und als Drückeberg­er, wer lieber reden als schießen wollte. Und als Blindgänge­r, wer Gewalt ablehnte. Und wie wohl der Satz von Romolo Guelfi in den Ohren des Vaters geklungen hätte? Jener Satz, der Udo Sürer bis heute wie ein Mantra im täglichen Leben begleitet: „Gut, dass Sie gekommen sind!“

Udo Sürer „Ich glaube nicht an eine Kollektivs­chuld. Aber ich glaube an eine

kollektive Verantwort­ung.“

Udo Sürer „Ich war und bin der Überzeugun­g, dass man die Wahrheit aushalten muss.“

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Udo Sürers Vater hat Andenken aus dem Krieg aufbewahrt. Auch nach dem Ende des Dritten Reichs hing er einem nationalso­zialistisc­hen Weltbild an.
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FOTO: PRIVAT Ungewöhnli­che Freundscha­ft: Udo Sürer (mit Tochter) und Romolo Guelfi. Guelfi entkam 1944 knapp dem Massaker, bei dem er drei Angehörige verlor und an dem Sürers Vater als SS-Mann beteiligt war.
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FOTO: PR In San Terenzo-Monti hängen Fotos der Opfer. Das jüngste war zwei Monate alt, das älteste 80 Jahre.

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