100 Jahre hinter dem Stand von Deutschland
Industrieentwicklung in China schwächelt laut einer neuen Studie – Kritik von Investoren
PEKING - Eine neue chinesische Untersuchung stellt den raschen Aufstieg der Volksrepublik zur modernen Industriemacht infrage. Wissenschaftler vom Forschungszentrum für industrielle Modernisierung veröffentlichten jetzt einen 500 Seiten starken „Modernisierungsreport China“. Sie fanden heraus, dass die tatsächliche Ausgangslage der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt für eine rasche Modernisierung viel niedriger ist als bisher angenommen.
Chinas Industrieentwicklung verlaufe extrem ungleich. Sie glänze auf Feldern wie der Bahnindustrie mit ihren Highspeed-Zügen, hinke aber bei anderen hinterher. Die Forscher legten ihrem weltweiten Vergleich das Jahr 2010 zugrunde. Sie untersuchten die Industriemodernisierung anhand von drei Maßstäben: Arbeitsproduktivität, Wachstumstempo in der Wertschöpfung und Anteil der industriellen Arbeitskräfte an der Gesamtbevölkerung. Forschungsleiter He Chuanqi nannte das Ergebnis: 2010 lag China 100 Jahre hinter dem Stand von England und Deutschland zurück.
Das Ein- und Aufholen hoch entwickelter Industriestaaten wird demnach eine langwierige Angelegenheit. Beim Vergleich anderer Da- ten befinde sich das Land im Mittelfeld, antworteten die Forscher auf Vorhaltungen. Doch Kennziffern wie der Anstieg der Arbeitsproduktivität, bei der China nur auf ein Neuntel der USA kam, oder Wertschöpfung entscheiden nun mal über den Erfolg des Pekinger Umkehrkurses hin zum qualitativen, innovativen und ökologisch nachhaltigen Wachstum. Die Studie stuft China auf den Stand der ersten Phase moderner Industrialisierung ein.
Nicht nur Forscher sorgen sich, ob Peking den Reformwillen aufbrin- ge. „Wir brauchen keine Propagandalosungen und Kampagnen mit leeren Worten“, kritisierte der EUKammerpräsident Jörg Wuttke den Reformstau in Peking. Nur im Finanzbereich tue sich wirklich etwas. Vertreter der europäischen Wirtschaft in China fühlten sich „vor unsicheren Zeiten“. Nach einer neuen Umfrage zum Geschäftsklima 2015, die Wuttke am Mittwoch in Peking vorstellte, sank die Zuversicht über Wachstum und Profitabilität ihrer Geschäfte bei den Kammermitgliedern auf einen Tiefstand seit 2011.
Fast jedes dritte EU-Unternehmen in China (31 Prozent) gab an, 2015 den Ausbau seiner Investitionen zu stoppen, sechs Prozent mehr als 2014. Mehr als jedes dritte Unternehmen will bei seinen Ausgaben sparen (39 Prozent), 15 Prozent mehr als 2014. Fast zwei Drittel darunter (61 Prozent) werden erstmals den Rotstift bei ihren Mitarbeitern ansetzen, eine Hiobsbotschaft für Peking.
Die umfangreiche Befragung durch die EU-Kammer und Roland Berger, an der sich 541 von 1487 Kammerunternehmen beteiligten, zeigt, wie schnell sich Chinas abschwächendes Wachstum, verschlechternde Standortbedingungen und steigende Arbeits- und Produktionskosten negativ auf Auslandsunternehmen auswirken. Nur eine einzige Gruppe fühlt sich noch richtig im Aufwind und glaubt, dass es auch so bleibt. 84 Prozent der Automobilhersteller wollen 2015 in China expandieren, dagegen nur noch 48 Prozent der Maschinenbauer.
Ein Ergebnis der Umfrage sollte Peking besonders zu denken geben. 55 Prozent der EU-Unternehmen, die über ungleiche und unfaire Behandlung klagten, sagten 2014, sie würden mehr in China investieren, wenn Peking mit Reformen ihren Marktzugang verbesserte. Für 2015 sagen das Gleiche 60 Prozent.