Hoch über der Stadt, die niemals schläft
Auf der High Line durch New York spazieren – Alte Eisenbahntrasse wird zum idyllischen Hochgarten
Den Centralpark, diesen guten alten Schauplatz von Krimis und Lovestorys, kennt ja jeder, zumindest aus dem Kino. Wer demnächst nach New York fährt, der sollte unbedingt auch eine ganz andere Art von Garten besuchen. Die „High Line“im Westen Manhattans führt vom Meatpacking-District über zwei Dutzend Häuserblocks hoch zum Hudson-Ufer an der 34. Straße, bietet spektakuläre Ausblicke und hat eine vergessene Gegend in etwas Schickes verwandelt.
Eigentlich sollte der rostige Rest einer ausgedienten Hochbahntrasse längst abgerissen werden. Kein Mensch brauchte mehr die in den frühen 1930er-Jahren gebaute Güterzugstrecke, auf der einst Schiffsladungen zu Fabriken und Fleischereien transportiert wurden. Eine Bürgerinitiative gab den Impuls, ein höheres Vergnügen daraus zu machen. Seit 2006 wurde die etwa 2,3 Kilometer lange Trasse in mehreren Abschnitten bepflastert und bepflanzt. Rund 200 Millionen Dollar plus zahllose Spenden kostete das Projekt. Heute blüht die High Line dank eines Fördervereins und zahlreicher ehrenamtlicher Helfer. Geschätzte fünf Millionen Besucher jährlich machen einen Spaziergang über den Dingen, mitten in der Stadt und doch entrückt.
Wir fahren mit der Underground erst mal downtown bis zur 14. Straße, und laufen vorbei am hübschen kleinen Jackson Square bis zur Gansevoort Street, wo vor Kurzem der von Renzo Piano entworfene Neubau des Whitney Museums eröffnet wurde. Das unvermeidliche Schlangestehen und 22 Dollar Eintritt lohnen sich nicht nur für die coole Kunst der amerikanischen Moderne zwischen Edward Hopper und Alex Katz. Das Haus an sich, in der Form eher unspektakulär, dient ganz der Entspannung der Besucher, die, anders als in Deutschland, ihre Taschen und Jacken mitnehmen und nach Herzenslust fotografieren dürfen. Piano hat die Ausstellungsflächen in den oberen vier Etagen mit Außentreppen und grandiosen Aussichtsterrassen versehen. Hier kann man sich beliebig lange aufhalten, es gibt reichlich Sessel, Bänke, sogar Liegestühle und einen Blick aus der Vogelperspektive auf das seltsam abgehackte Ende der High Line. Oder sollen wir es den Anfang nennen?
Gleich neben dem Museum erhebt sich die alte Eisenkonstruktion, unter der ein Café eingerichtet wurde. Eine stählerne Treppe führt hinauf auf die Trasse, wo zwischen Schienen, über die schon 35 Jahre lang kein Zug mehr gefahren ist, ein Birkenhain von poetischer Zartheit grünt. Man ist sofort bezaubert.
Kostenloses Vergnügen
Ein Pfad aus Planken und Granitplatten führt über die High Line, ohne das Raue und Kantige der alten Struktur zu verbergen. Im Schotter zwischen ausgelassenen Steinen wächst das Präriegras, in rostigen Eisenkästen sprießt Schilf, sanft bewegt von der frischen Brise, die vom Hudson herüberweht. Zum Verwei- len gibt es zahlreiche Bänke und Liegestühle. Gentlemen lesen ihre Zeitung, schnatternde Girls knabbern ihre mitgebrachten Blaubeermuffins, ein Rentnerpaar aus der Vorstadt packt die Thermoskanne aus. Sich hier zu erholen, kostet nichts. Keiner will eine Gebühr kassieren. Diese Tatsache allein ist im übergeschnappt teuren Manhattan schon eine Offenbarung. Gewiss, der Soundtrack der Metropole mit ihren Sirenen und Motoren dröhnt auch auf der High Line. Aber man hört zugleich die Vöglein in den Zweigen zwitschern. Ein paar buddhistische Mönche in orangefarbenen Gewändern sammeln Unterschriften für den Frieden. „Peace, Peace“, murmeln sie, und es stellt sich ein kurioses Gefühl der Geborgenheit ein.
Die Trasse führt durch ehemalige Lagergebäude, in deren Schatten einige Eisdielen und Imbissstände eröffnet haben, die sich an heißen Sommertagen großer Beliebtheit erfreuen. Ein paar Blocks weiter, an der 18. Straße, macht die High Line einen Knick. Hier wurde eine Art Amphitheater mit Panoramafenster quer über die 10. Avenue gebaut. Da hocken wir, über den Dingen, und genießen das Theater der Großstadt: die gelben Taxis, die Reklameschilder, die hetzenden Passanten da unten in den Häuserschluchten. Man vergisst fast den allgegenwärtigen Dieselgeruch in der Stadt, die niemals schläft. Auf das Geländer über der 20. Straße hat der Bildhauer Damían Ortega „Physical Graffiti“in Stahl montiert. Noch viele andere unkonventionelle Objekte sind im Rahmen eines Kunstprogramms entlang des Gartens zu entdecken. Wir sind bewegt von dem Gedanken, dass der menschliche Wille und Erfindungsgeist aus dem Scheußlichen etwas Schönes zu machen in der Lage sind.
Lunch und Shopping
Leider lässt der Geschäftssinn, der aus etwas Schönem etwas Teures macht, auch nie lange auf sich warten. Rechts und links dröhnen Baumaschinen, etliche Fassaden sind eingerüstet. Die altmodernen Blockbauten an den Seiten der High Line, lange Zeit eher miese Adressen, werden zügig saniert und neu als Büround Appartementhäuser vermarktet. Schilder verheißen „Luxury Living on the High Line“, und die Devise ist: „Rent now!“
Plötzlich verstummt der Baulärm. Es ist „High Noon“, 12 Uhr, Mittagspause. Arbeiter und Manager kommen mit ihren Vespertüten auf die High Line, um ziemlich frische Luft zu schnappen. Zeit für uns, hinabzusteigen – an der 23. Straße zum Beispiel. Unten auf der zehnten Avenue, früher eine schmutzige Schneise ins Gewerbegebiet, regt sich der Lifestyle. Wir gehen zum Lunch in den „Cookshop“(156 Tenth Avenue), wo es gesunde Küche gibt: Seafood Burger oder eine langsam gegarte Flugente. Filmstar Lucy Liu („Drei Engel für Charlie“) pflegt auch hier zu speisen, im unscheinbaren grauen Kapuzenshirt huscht die chinesisch-amerikanische Diva vorbei. Und sie geht danach, genau wie wir, ins Konzeptstore „Story“(144 Tenth Avenue), wo in dieser Woche süße Kleider von jungen Designern für vergleichsweise lächerliche 50 bis 60 Dollar präsentiert werden. Da macht das Shoppen Spaß.
Liebenswerte Läden und Lokale sind dank der High Line in West Chelsea und dem Meatpacking-District zu entdecken, viel billiger und witziger als in Midtown, wo ein Glas Wein schon 24 Dollar kostet. Bevor die Spekulanten die Preisschraube anziehen, sollte man die High Line und ihre Gegend genießen. Oder, wie der Amerikaner sagt: „Enjoy!“