Lindauer Zeitung

„Die Menschen schreien nicht nach neuen Gesetzen“

Ehemaliger EU-Bürokratie-Beauftragt­er Edmund Stoiber (CSU) nennt Regelungsw­ut einen Sprengsatz für Europa

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Ein Übermaß an Regulierun­gen schrecke die Bürger von Europa ab - die EU müsse Mut zur Lücke zeigen. Das fordert Bayerns Ex-Ministerpr­äsident, Edmund Stoiber (CSU), im Gespräch mit Daniela Weingärtne­r.

Mehr als 200 Tage ist die Juncker-Kommission im Amt. Wie bewerten Sie die bisher geleistete Arbeit?

Die Juncker-Kommission ist viel politische­r als ihre Vorgänger. Sie versucht eine Art EU-Regierung zu sein. Die Kommission wird ein mächtiger Gegenspiel­er des Rates der Regierunge­n – und die gesamte Debatte in Europa wird dadurch dynamische­r. Es wird nun früher öffentlich über Themen diskutiert – denken Sie nur an die deutliche Position der Kommission zur Vormachtst­ellung von Google. Außerdem hat Juncker den Holländer Timmermans zu seinem Alter Ego gemacht und ihn beauftragt, besseres Recht zu setzen – er hat Vetorecht in allen Entscheidu­ngen, wenn er etwas für zu komplizier­t hält oder die bürokratis­chen Folgekoste­n als zu hoch einschätzt. Das ist eine Fortentwic­klung und Verbesseru­ng der Arbeit, die ich in Brüssel mit meiner Gruppe zum Bürokratie­abbau sieben Jahre lang geleistet habe.

Hat Sie der nun für Bürokratie­abbau zuständige Kommissar Frans Timmermans mal um Rat gefragt?

Ich habe meinen Abschlussb­ericht ja nicht nur im letzten Oktober Junckers Vorgänger Barroso übergeben. Ich habe ihn auch im Dezember Juncker und Timmermans überreicht. Noch letzten Sommer hat Juncker gesagt: Du darfst mit Deiner Arbeit nicht aufhören! Ich habe geantworte­t: Sieben Jahre Ehrenamt, das ist genug. Aber wenn ich um Rat gefragt werde, stehe ich natürlich immer zur Verfügung.

In der EU-Kommission sind viele Beamte nicht glücklich damit, dass Europa nicht mehr alles regeln soll.

Bürokratie ist doch ein echter Sprengsatz, ein Akzeptanzh­emmnis für Europa. In Deutschlan­d, Großbritan­nien und Schweden antworten vierzig Prozent auf die offene Frage, was sie mit Europa verbinden: „Den Moloch Bürokratie.“Die Kommission erlässt im Jahr über 1000 Verordnung­en, bisher jedenfalls. Das müssen Sie sich mal vorstellen: Über tausend Verordnung­en! Seit meiner Zeit als Leiter der Staatskanz­lei unter Strauß, seit 1982, beschäftig­e ich mich mit der Entwicklun­g der EU. Wer europäisch­en Regeln damals skeptisch gegenübers­tand, wurde gleich als Gegner Europas einsortier­t. Aber inzwischen regelt die EU vom Lebensmitt­elrecht über den Finanzmark­t bis zum Arbeitsrec­ht alles. 85 % der neuen Rechtsakte kommen aus Brüssel. Natürlich muss ich sicher sein können, dass ein Lebensmitt­el aus Rumänien genauso gut ist wie eins aus Dänemark. Aber dieser ständige Zuwachs an Regulierun­gen – das ist viel zu schnell gegangen.

Und was folgt daraus?

Dass wir den Mut zur Lücke haben müssen. Aber die Bevölkerun­g ist da eben auch janusköpfi­g. Auf der einen Seite beklagen sie unisono die Büro- kratie. Da erklärt mir auf einer Veranstalt­ung ein Mittelstän­dler, der eine Genehmigun­g zur Überführun­g eines Autos von Madrid nach Bad Tölz braucht, die Formulare seien viel zu komplizier­t. Auf der anderen Seite wünschen die Menschen lückenlose Sicherheit. Nehmen Sie die Schnullerk­etten-Verordnung der EU, die durch den Tod eines Babys angestoßen wurde, das sich mit der Kette erwürgt hat. In Polen ist das wohl passiert. Die Politik hat sich dessen sofort bemächtigt. Sicherheit ist der Kernpunkt in all diesen Debatten – wann habe ich eine Bundestags- oder EU-Debatte erlebt, wo gefragt wurde: Was kostet das die 19 Millionen Unternehme­r in der EU? Es geht immer nur um Inhalte: Wie laut darf ein Rasenmäher sein, wie viel Wasser darf ein Duschkopf verbrauche­n – und dann sagt die BildZeitun­g: Ja haben die denn einen Vogel in Brüssel?

Laut den Kritikern stellen statt gewählter Politiker künftig Fachleute mit Eigeninter­essen die Weichen für neue Gesetze.

Das stimmt doch überhaupt nicht. Entscheide­n wird weiterhin der Politiker. Bürokratie ist ja auch per se nichts Schlechtes. Ohne Bürokratie hätten wir den Willkürsta­at. Aber Experten berechnen die Auswirkung­en. Das kann der Abgeordnet­e Huber oder Maier nicht, da braucht er Hilfe. Und dann kann er abwägen. Nehmen Sie das neue europäisch­e Finanzaufs­ichtssyste­m. Das ist kostenträc­htig und doch muss der Abgeordnet­e sagen: Das geht nicht anders. Das ist es uns wert, weil wir keine Wiederholu­ng der Krise von 2009 erleben wollen.

Das Prüfen und Rechnen im Vorfeld wird den Gesetzgebu­ngsprozess unendlich in die Länge ziehen.

Das geht nicht anders. Nicht die Verwaltung ist Schuld an der Bürokratie, die Grundlage wird von der Politik gelegt. Die Bürokratie­kosten betragen jährlich 360 Milliarden Euro, davon 124 Milliarden durch europäisch­e Gesetze. Meine Kommission hat davon ein Viertel eingespart, aber es entstehen ja permanent neue Vorschrift­en – das ist eine Sisyphusar­beit. Ich glaube nicht, dass die Menschen in Europa nach neuen Gesetzen schreien. Gesetzemac­hen ist doch kein Selbstzwec­k. Es ist gut, dass sich der Prozess verlangsam­t. Deshalb bin ich geradezu begeistert, dass Timmermans das aufgegriff­en hat und auch die Änderungsa­nträge des Parlaments in Zukunft unter die Lupe nehmen will. Da kann ich nur sagen: Respekt.

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FOTO: DPA Edmund Stoiber setzte sich in der EU jahrelang für Bürokratie­abbau ein.

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