Ganz ohne Bürokratie geht es auch in Europa nicht
EU-Kommission will frühzeitig den Mehrwert von geplanten Gesetzen prüfen – Kritiker fürchten Nebenwirkungen
BRÜSSEL - Die Konzentration aufs Wesentliche, die der neue Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker versprochen hat, produziert nur wenig Papier. Jeden Mittag vor der täglichen Pressekonferenz in der EUKommission streichen die Brüsseler Journalisten an den Tischen entlang, wo sie bis letzten Herbst Erklärungen, Reden und Gesetzentwürfe einsammelten. Jetzt aber vergehen Wochen, in denen die berüchtigte Brüsseler Bürokratie nichts anderes ausspuckt als ein paar Zahlen der Statistikbehörde Eurostat.
Die Reporter sind nicht die einzigen, die den Bürokratieabbau loben und gleichzeitig um ihre Arbeitsgrundlage fürchten. Viel härter trifft es die 751 Abgeordneten des EU-Parlaments. Denn sie können mit ihrer Gesetzgebungsarbeit erst beginnen, wenn die EU-Kommission einen Vorschlag gemacht hat. Abgeordnete wie Andreas Schwab (CDU) fordern schon lange, nicht alle Energie auf neue Gesetze zu richten sondern stärker zu kontrollieren, dass die bestehenden Regeln in nationales Recht umgesetzt und überall angewandt werden. Aber das bedeutet viel Arbeit für wenig Medienecho. Neue Gesetze zum Klimaschutz rücken die Arbeit der Parlamentarier bei den Wählern zu Hause in ein klareres Licht als die Kontrolle nachgeordneter Verwaltungsakte.
Als das Europaparlament im Mai über die Vorschläge zur Entbürokratisierung debattierte, warnten viele Redner davor, weniger Gesetze für einen Wert an sich zu halten. „Bessere Rechtsetzung kann manchmal mehr Rechtsetzung bedeuten“, sagte der Sozialist Enrique Guerrero Salom. Soziale und ökologische Errungenschaften in Europa dürften nicht unter dem „Deckmantel des Bürokratieabbaus“gefährdet werden, er- gänzte seine Fraktionskollegin Sylvia-Yvonne Kaufmann. Diese Befürchtung teilt die grüne Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms. Sie warnt davor, dass externe Berater, die im Vorfeld den Mehrwert eines Gesetzes prüfen sollen, keiner demokratischen Kontrolle unterliegen.
Viele Mitgliedsstaaten lehnen die Einmischung Brüssels in soziale Fragen ab. Doch in einem freien Binnenmarkt, wo Unternehmen über die Landesgrenzen hinweg investieren und Arbeitsplätze immer mobiler werden, sind einheitliche Mindestregeln unerlässlich. Sonst setzt eine gnadenlose Spirale nach unten ein.