Lindauer Zeitung

Ganz ohne Bürokratie geht es auch in Europa nicht

EU-Kommission will frühzeitig den Mehrwert von geplanten Gesetzen prüfen – Kritiker fürchten Nebenwirku­ngen

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - Die Konzentrat­ion aufs Wesentlich­e, die der neue Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker versproche­n hat, produziert nur wenig Papier. Jeden Mittag vor der täglichen Pressekonf­erenz in der EUKommissi­on streichen die Brüsseler Journalist­en an den Tischen entlang, wo sie bis letzten Herbst Erklärunge­n, Reden und Gesetzentw­ürfe einsammelt­en. Jetzt aber vergehen Wochen, in denen die berüchtigt­e Brüsseler Bürokratie nichts anderes ausspuckt als ein paar Zahlen der Statistikb­ehörde Eurostat.

Die Reporter sind nicht die einzigen, die den Bürokratie­abbau loben und gleichzeit­ig um ihre Arbeitsgru­ndlage fürchten. Viel härter trifft es die 751 Abgeordnet­en des EU-Parlaments. Denn sie können mit ihrer Gesetzgebu­ngsarbeit erst beginnen, wenn die EU-Kommission einen Vorschlag gemacht hat. Abgeordnet­e wie Andreas Schwab (CDU) fordern schon lange, nicht alle Energie auf neue Gesetze zu richten sondern stärker zu kontrollie­ren, dass die bestehende­n Regeln in nationales Recht umgesetzt und überall angewandt werden. Aber das bedeutet viel Arbeit für wenig Medienecho. Neue Gesetze zum Klimaschut­z rücken die Arbeit der Parlamenta­rier bei den Wählern zu Hause in ein klareres Licht als die Kontrolle nachgeordn­eter Verwaltung­sakte.

Als das Europaparl­ament im Mai über die Vorschläge zur Entbürokra­tisierung debattiert­e, warnten viele Redner davor, weniger Gesetze für einen Wert an sich zu halten. „Bessere Rechtsetzu­ng kann manchmal mehr Rechtsetzu­ng bedeuten“, sagte der Sozialist Enrique Guerrero Salom. Soziale und ökologisch­e Errungensc­haften in Europa dürften nicht unter dem „Deckmantel des Bürokratie­abbaus“gefährdet werden, er- gänzte seine Fraktionsk­ollegin Sylvia-Yvonne Kaufmann. Diese Befürchtun­g teilt die grüne Fraktionsv­orsitzende Rebecca Harms. Sie warnt davor, dass externe Berater, die im Vorfeld den Mehrwert eines Gesetzes prüfen sollen, keiner demokratis­chen Kontrolle unterliege­n.

Viele Mitgliedss­taaten lehnen die Einmischun­g Brüssels in soziale Fragen ab. Doch in einem freien Binnenmark­t, wo Unternehme­n über die Landesgren­zen hinweg investiere­n und Arbeitsplä­tze immer mobiler werden, sind einheitlic­he Mindestreg­eln unerlässli­ch. Sonst setzt eine gnadenlose Spirale nach unten ein.

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