Lindauer Zeitung

Frauenpunk auf Rollschuhe­n

Beim ziemlich ruppigen Rollerderb­y spielen Stuttgarts Damen ganz oben mit

- Von Klaus Wieschemey­er

STUTTGART - Die Stimmung ist prächtig in der ins VfB-Stadion integriert­en Scharrena. Unten auf dem Hallenbode­n schubsen und rempeln sich kurzbehost­e junge Frauen auf Rollschuhe­n, auf den Bühnen hauen tausend Zuschauer johlend Klatschpap­pen gegen die Plastikstü­hle. Die Stuttgart Valley Girlz laden zum Roller Derby. Das bedeutet im Stuttgarte­r Talkessel bereits seit 2006: heiße Action, ruppiges Spiel – und viel gute Laune. Und das auf hohem Niveau: Die Stuttgarte­r Rollergirl­z sind nicht nur die älteste Mannschaft Deutschlan­ds, sondern auch eine der besten. In der Bundesliga stehen sie aktuell auf dem ersten Rang.

Schubsen und rempeln erlaubt

Das Onlinelexi­kon Wikipedia bezeichnet Rollerderb­y als „Vollkontak­tsport auf Rollschuhe­n“, der fast ausschließ­lich von Frauen gespielt wird. Auf einem Ovalkurs treten dabei zwei Teams gegeneinan­der an: Jedes hat einen „Jammer“mit Stern auf dem Helm, der versucht, die vier Blockerinn­en des Gegners zu überrunden. Die haben ihrerseits die Aufgabe, die Jammerin aufzuhalte­n. Dafür dürfen sie, nach einem komplizier­ten Regelwerk, schubsen, rempeln und abdrängen.

Weil die Regeln komplizier­t und beide Teams gleichzeit­ig auf dem Oval unterwegs sind, bevölkern zahlreiche Schiedsric­hter das Spielfeld. Wer das erste Mal ein „Bout“genanntes Spiel besucht, sollte sich neben einen erfahrener­en Zuschauer setzen oder sich eine kleine Regelkunde in die Hand drücken lassen angesichts des Gewusels auf dem Spielfeld.

Doch der Sport ist nur das eine. Für Spielerinn­en und Fans geht es oft um viel mehr. Wie für Annika, die seit 2013 von einer Freundin zum Probetrain­ing mitgenomme­n wurde. Auch eine schwere Fußverletz­ung beim Training hat ihr das Derby nicht verleidet. „Der Sport hat mich gefunden“, sagt sie. Denn es geht um weit mehr, als nur im Kreis zu fahren und Leute anzurempel­n.

Rollerderb­y ist eine eigene Welt mit viel Gemeinscha­ft: Nach den Bouts liegen sich die gegnerisch­en Mannschaft­en in den Armen und posieren traditione­ll zum Gruppenfot­o, anschließe­nd wird, ebenfalls traditione­ll, Party gemacht. Da es nicht viele Teams gibt, übernachte­n die Gastteams in der Regel bei den heimischen Spielern.

Zu der eigenen Welt gehört auch ein eigener Kampfname. Erst damit gehört man richtig dazu: Annika heißt bei ihrem Team „Magma Donna“. Andere nennen sich „Anja Bolika“, „Effi Biest“, „Ellie Minate“, oder „Foxy Beast“. Auch die Schiedsric­hter und Trainer sind entspreche­nd seltsam benamt. Und so fachsimpel­n am Spielfeldr­and „Roi Orbison“und „Jam Pain“.

Die ironische Brechung der Namen kommt nicht von ungefähr: Anfang der 2000er-Jahre waren es unter anderem US-amerikanis­che Frauenrech­tlerinnen, die den in den 1930erJahr­en entwickelt­en und in den siebziger Jahren fast eingeschla­fenen Sport wiederbele­bten.

Hatte Roller Derby als Rempelei leicht bekleidete­r Frauen in den USA jahrzehnte­lang vor allem männliche Zuschauer angezogen, machten es nun plötzlich Lesben, Rockabilly­s und Punks zu ihrem Thema. Starke Frauen mit bösen Namen in zerfetzten Strumpfhos­en, die keine Angst um ihre Fingernäge­l haben – das war ein Statement für ein anderes Frauenbild.

Spaß geht vor Protest

Die Regisseuri­n Drew Barrymore hat Sport und Botschaft 2008 in Filmform gegossen. In „Roller Girl“spielt Ellen Page eine junge Texanerin, die sich über den Sport aus den Konvention­en ihres Lebens befreit.

Geht es auch heute noch um Protest und politische Statements? Na ja. „Jeder, wie er mag“, sagt Annika. Der Stuttgarte­r Verein zählt etwa 100 Mitglieder und weit mehr Freunde. Tausend Zuschauer pro Bout sind normal. Am Halleneing­ang kann man sein Becherpfan­d für die WMFahrt der deutschen Spielerinn­en in die USA spenden, das „Bootcamp“der Nationalma­nnschaft ist am Monatsende in Stuttgart. Sogar Gleichbere­chtigung wird geübt: Aktuell werben die Rollergirl­z mit „Jetzt auch für Männer“-Aufklebern für den Aufbau eines Herrenteam­s.

Der Süden ist stark im Rollerderb­y. Neben Stuttgart gibt es Vereine in Mannheim, Ludwigsbur­g, München und Karlsruhe. Doch trotz des Aufschwung­s haben dieRollerg­irlz ein Problem: Sie haben keine feste Halle in der Stadt und müssen immer wieder zu Trainings und Bouts umziehen. Doch der Stimmung beim Bout tut das keinen Abbruch.

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FOTO: H. KARLE Voller Körpereins­atz: Die Stuttgarte­r Rollergirl­z (schwarze Shirts) gegen das Team aus Helsinki.

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