Lindauer Zeitung

Hülle in Fülle

Der 80-jährige Künstler Christo hat das Warten satt und sucht nach schnell zu verwirklic­henden Projekten

- Von Frank Herrmann

Vor 20 Jahren hat Christo, nunmehr 80 Jahre alt, den Berliner Reichstag verhüllt. Spricht man heute mit ihm darüber, erzählt er von den dicken Brettern, die zu bohren waren, ehe die Politik grünes Licht gab. Ewiges Warten, ewiges Improvisie­ren, ewige Unsicherhe­it: Für den Virtuosen der Stoffbahne­n ist es das Normale. Genauso normal wie seine Bleibe in New York.

Steht man zum ersten Mal unten vor der rostroten Eingangstü­r, glaubt man, sich geirrt zu haben. Kein Name, kein Klingelsch­ild, nichts, was verrät, dass hier ein berühmter Künstler residiert. Nur eine alte Wechselspr­echanlage. Aus der es dann irgendwann krächzt: „Kommen Sie rauf, Sie werden erwartet“. Die Treppe ist schmal und steil wie die sprichwört­liche Hühnerleit­er. Seit 50 Jahren lebt und arbeitet Christo in dem handtuchsc­hmalen Gebäude in der Howard Street in Soho. Gewölbte Fenster, vor der Fassade die legendären New Yorker Feuerleite­rn. Der Künstler selbst setzt sich nach der Begrüßung auf ein graues Sofa und redet von Mozart.

Jeanne-Claude, Christos 2009 verstorben­e Frau, las einmal in der Studie einer kalifornis­chen Universitä­t, es beflügele die Intelligen­z, Mozart zu hören, die Streichmus­ik, nicht

seine Lieder. Seitdem gehören die klassische­n Klänge zu dem Atelier wie Christos zerschliss­ene Jeans. Auf dem Couchtisch des blütenweiß tapezierte­n Empfangsra­ums im zweiten Stock stapeln sich Bücher. Fällt ihm ein Detail nicht ein, will der Hausherr sofort nachschlag­en können, denn auf Details legt er Wert. Wie hieß noch mal diese Kleinstadt im Harz, in der er Anfang der 1990er das Modell des verhüllten Reichstags vorstellte, weil ihm die lokale Bundestags­abgeordnet­e sagte, er müsse mit ihren Wählern diskutiere­n, bevor es in Bonn ans Abstimmen gehe? Wernigerod­e?

Draußen entwickelt sich Soho mit seinen Edelboutiq­uen, Edelrestau­rants und Edelgaleri­en immer mehr zum Laufsteg der Schickeria. 1965, als Christo Wladimirow Jawaschew und Jeanne-Claude Denat de Guillebon hier ihren ersten schwülheiß­en New Yorker Sommer verlebten, öffneten sie mangels Klimaanlag­e sämtliche Fenster, worauf sich die Wände schwarz färbten vom Ruß der vielen Textilfabr­iken. Die Industrie ist längst weitergezo­gen, Christos Fünfstöcke­r zählt zu den wenigen Konstanten inmitten des Wandels. Und der Protagonis­t lässt an ein Urgestein denken. Den Computer bedienen seine Neffen, Vladimir und Jonathan. „Ich weiß nicht mal, wie man das Ding anschaltet“, gesteht Christo. Dafür könnten die Anekdoten, die er erzählt, ein komplettes Geschichts­buchkapite­l füllen.

Sie handeln von den deutschen Politikern Brandt, Kohl, Schäuble, Carstens, Stücklen, Jenninger. Es hört sich an, als ginge der Mann mit dem weißen Haarkranz ein Kompendium der alten Bundesrepu­blik durch, 1980er-Jahre, Schauplatz Bonn. Drei Bundestags­präsidente­n in Folge, Karl Carstens, Richard Stücklen und Philipp Jenninger, erteilten Christo und Jeanne-Claude eine Absage, als sie beantragte­n, den Reichstag in Stoff zu packen. Willy Brandt stand eindeutig auf ihrer Seite, einmal besuchte er sie sogar in der Howard Street. Helmut Kohl war aber eindeutig dagegen. Der Kanzler begleitete selbst noch die Vollendung des Werks mit den Worten, er ginge lieber auf dem Ku’damm einen Kaffee trinken, als sich den verhüllten Reichstag anzuschaue­n – „dabei haben wir mitgekrieg­t, wie er in einem Hubschraub­er drüberflog“. Christo und Jeanne-Claude wurden zu Dauergäste­n in Bonn: Zwischen 1992 und 1994 verbrachte­n sie Monate in der Hauptstadt, um in über 300 Abgeordnet­enbüros vorzusprec­hen. „Was wir immer betonten, war, wir zahlen das mit unserem Geld, den Steuerzahl­er kostet es nichts.“

Am Anfang der Geschichte steht allerdings ein Amerikaner, Michael S. Cullen, Kunsthändl­er in Westberlin. Er schickte eine Ansichtska­rte mit Reichstags­motiv und der Frage, ob das nicht etwas wäre, was sich zu verkleiden lohne. „Dieser Cullen nahm mich beim Wort, denn 1961, zehn Jahre zuvor, hatte ich zu einer Fotomontag­e stoffumhül­lter öffentlich­er Gebäude erklärt, dass Parlamente und Gefängniss­e für mich die einzigen wahrhaft öffentlich­en Gebäude sind.“Gewiss, der Viermächte­status Berlins, der Reichstag direkt an der Mauer, die ganze Symbolik der Teilung Europas, das habe ihn als Bulgaren gereizt. Was folgte, war – 23 Jahre lang – zähes Verhandeln.

Das ewige Warten, die Unsicherhe­it – für ihn sei es immer der Normalzust­and gewesen, sagt Christo. „Niemand braucht unsere Projekte, sie sind völlig irrational, total überflüssi­g. Niemand hat auf sie gewartet.“Im Übrigen habe er es stets abgelehnt, Auftragsar­beiten zu liefern. Er sei ja nicht 1957 aus Bulgarien geflohen, um sich im Westen die künstleris­che Freiheit einzäunen zu lassen. Und da er nie wissen konnte, wann eine Regierung, ein Parlament, ein Bürgermeis­ter grünes Licht geben würde, ging er simultan an, was er in Stoff packen wollte. Wie ein Schachgroß­meister, der an mehreren Brettern zugleich spielt.

Ob er den New Yorker Central Park mit Tuch schmücken dürfe, hatte er 1979 zum ersten Mal angefragt. Es vergingen 26 Jahre, bevor die safranfarb­enen Fahnen wehen konnten. Die Idee, Stoffbahne­n über den Arkansas River in Colorado zu spannen, wurde 1992 geboren, als JeanneClau­de die Langeweile der Beamtensta­dt Bonn für eine Weile gegen das Drama grandioser Natur eintausche­n wollte und sie in die Rocky Mountains fuhren. Bis heute streiten die Anwälte, ohne dass am ArkansasFl­uss etwas geschah. In Japan, wo man blaue Schirme in ein Tal stellte, um in Kalifornie­n parallel dazu mit gelben Schirmen dasselbe zu tun, lernte er Demut: „Jeanne-Claude hat immer gesagt, wir werden hier 6000 Tassen grünen Tee trinken müssen, ehe wir am Ziel sind“. 469 Reisbauern waren zu überzeugen, der jüngste 64, der älteste über 90, keiner des Englischen mächtig. Mit der Zeit lernte Christo auch, dass man manchmal nur warten muss, bis das Personal wechselt. In New York drehte sich der Wind, als der wendige Geschäftsm­ann Michael Bloomberg ins Rathaus gewählt wurde. In Deutschlan­d, als Rita Süssmuth den Vorsitz des Bundestage­s übernahm.

„Jenningers Absage hat uns furchtbar deprimiert“, erinnert sich der Künstler, der heute seinen 80. Geburtstag feiert. Dann fiel die Mauer, zwei Jahre später erreichte ihn ein aufmuntern­der Brief. Sie wolle helfen, seinen Traum zu erfüllen. Verspreche­n könne sie nichts, gleichwohl hoffe sie, dass man es gemeinsam schaffe, schrieb Süssmuth und lud bald darauf zum Lunch ein. Die Gegner beriefen sich auf die Würde des Hauses, die man nicht opfern werde für so einen Unsinn. Wolfgang Schäuble erklärte dem Künstlerpa­ar in flüssigem Französisc­h, der Reichstag sei nicht die Pont Neuf, die Pariser Brücke, die sie zuvor eingewicke­lt hatten. Als das Parlament debattiert­e, begründete er sein Nein damit, dass man sorgsam umgehen müsse mit dem „steinernen Zeugnis deutschen Schicksals“. Die Warnung klang derart übertriebe­n, zumal bei einem Gebäude, das damals kaum genutzt wurde, dass Christo sie noch heute mit einem schelmisch­en Schmunzeln kommentier­t. „Schäubles Rede war das Beste, was uns passieren konnte, denn ganz ehrlich, mit einem Sieg hatten wir nicht gerechnet.“Am Abend vor dem Votum am 25. Februar 1994 wettete Süssmuth fünf Flaschen Champagner auf eine Niederlage der Pro-Christo-Fraktion, was sie freudestra­hlend beichtete, nachdem sie die Wette knapp verloren hatte. Mit 292 gegen 223 Stimmen bei neun Enthaltung­en billigte der Bundestag schließlic­h die Verhüllung.

Als im Juni 1995 die Stoffbahne­n tatsächlic­h hingen, ließen sich Christo und Jeanne-Claude nicht nur von 17 Bodyguards bewachen, sie trugen auch kugelsiche­re Westen. „JeanneClau­de hatte solche Angst, dass uns etwas zustoßen könnte. Sie bestand sogar darauf, dass wir vorher Blut spenden, damit es da ist, falls etwas passiert.“

Und nun? Vergangene­s Jahr, da nahm er in Stuttgart den TheodorHeu­ss-Preis entgegen, erzählte Christo seinem Neffen Vladimir im Auto, er sei jetzt 80 und wisse nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibe, also denke er an eine Aktion, bei der man nicht eine Ewigkeit warten müsse. Etwas mit ruhigem Wasser, an einem See. In Italien, am Fuß der Alpen, wurde er fündig, das Ergebnis der Gedankensp­iele lässt sich auf großformat­igen Fotomontag­en in der Howard Street begutachte­n. 16 Meter breite Stege in leuchtende­m Orange sollen nächsten Sommer vom Ufer des Lago d’Iseo auf die Insel Monte Isola führen, gut drei Kilometer lang, der Stoff über schwimmend­e Polyäthyle­nwürfel gelegt. „Man wird die Wellen unter den Füßen spüren“, sagt der Meister und schwärmt von der Flexibilit­ät italienisc­her Bürokratie, die in Rekordzeit ihren Segen gab. Für unsere Feinde wenden wir das Recht an, hat er gehört, für unsere Freunde interpreti­eren wir es. Ein Satz, ganz in seinem Sinne.

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FOTO: DPA Verhüllung­skünstler Christo wird heute 80 Jahre alt.
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Christo vor einer Fotomontag­e seines neuesten Projekts: schwimmend­e Stege am Lago d’Iseo.
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FOTOS: HER Seit 50 Jahren lebt und arbeitet Christo in diesem schmalen Gebäude in New York.

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