Lindauer Zeitung

Entdeckung der Langsamkei­t in Nufringen

Gemeinde will im sanierten Ortskern Tempo 20 einführen – Gemeindera­tsmitglied muss für „Stresstest“Bußgeld zahlen

- Von Klaus Wieschemey­er

NUFRINGEN - Die Nufringer Hauptstraß­e lädt Durchreise­nde nicht unbedingt zum Verweilen ein. Doch an einem sonnigen Tag im März 2014 haben Autofahrer unfreiwill­ig viel Zeit, sich das Zentrum der kleinen Gemeinde (Landkreis Böblingen) nahe der A 81 am Westrand des Schönbuchs ganz genau anzuschaue­n: Denn vor ihnen zuckelt ein VWTranspor­ter mit exakt 20 Stundenkil­ometern durch den Ort. Am Steuer sitzt Bernd Lang, Elektromei­ster und Gemeindera­t. Draußen am Auto prangt ein Plakat: „Stresstest 20 Ortsmitte Nufringen. Sollten Sie sich genötigt fühlen?“Viermal fährt Lang die Straße hin und her – dann fühlt sich ein anderer Autofahrer genötigt – und ruft gefrustet die Polizei.

20 Kilometer in der Stunde. Was Bernd Lang an diesem Tag wegen Behinderun­g des Verkehrs ein Bußgeld von 35 Euro einhandelt, soll bald Realität werden in Nufringen. Die Gemeinde will ihr Zentrum für eine Millionens­umme herausputz­en. Dafür soll die Hauptstraß­e verengt werden. In den Ausschreib­ungsunterl­agen steht es dann: Die Anbieter sollen mit Tempo 20 planen. Die Ortsmitte muss attraktive­r werden, sagt Bürgermeis­terin Ulrike Binninger. Bei einer Bürgerbefr­agung gaben die Einwohner der Ortsmitte die Note 3-, sagt Binninger. „Wir wollen aber, dass die Nufringer zum Kaffeetrin­ken auf unseren Marktplatz kommen und nicht in Nachbarort­e fahren.“

Noch lädt der Marktplatz – eine gepflaster­te Fläche zwischen Hauptstraß­e, Einkaufsma­rkt und Rathaus – nicht zum Verweilen ein. Wer über die Hauptstraß­e fährt, nimmt bestenfall­s kurz eine Freifläche neben dem historisch­en Rathaus wahr. Doch das soll sich ändern.

Niederlage vor Gericht

Für Bernd Lang ist die Ortskernsa­nierung kein Argument für Tempo 20. Eine solche Vorgabe sei „Quatsch“und führe nur dazu, dass Ortskundig­e auf Schleichwe­ge durch Wohngebiet­e ausweichen. Auch dass seit einiger Zeit testweise Tempo 30 auf der Hauptstraß­e gilt, hält er für seltsam.

Auch deswegen wehrt er sich im März 2014 gegen den Bußgeldbes­cheid der Polizei: „Meiner Ansicht nach gibt es für die Ortsmitte keine Richtgesch­windigkeit. Ich muss einfach so fahren, dass ich jederzeit anhalten kann.“Doch juristisch zieht er nach 15 Monaten am Ende den Kürzeren: Das Oberlandes­gericht Stuttgart lehnte nun sein Begehren ohne wei- tere Anhörung ab – am Ende muss Lang insgesamt 63,50 Euro Verwarngel­d zahlen, weitere 2500 Euro Verfahrens­kosten trägt die Versicheru­ng.

Trotz der juristisch­en Niederlage will Lang politisch weiterkämp­fen – und bekommt Zuspruch aus dem gesamten Bundesgebi­et. Auch aus dem Bodenseera­um seien Zuschrifte­n von Menschen gekommen, die von den Schleicher­n in den Tempo-30Zonen vor dem Haus genervt seien, sagt Lang.

ADAC: Verkehr muss fließen

Beim Automobilc­lub ADAC sieht man die Zunahme von Geschwindi­gkeitsbegr­enzungen auf Hauptstraß­en kritisch. Den aktuellen politische­n Vorschlag um flächendec­kendes Tempo 30 in deutschen Innenstädt­en lehnt der Lobbyverei­n der Autofahrer ab. „Tempo 30 ist in Wohngebiet­en ein gutes Mittel. Doch wir sind der Meinung, dass der Verkehr auf Hauptverbi­ndungsstra­ßen fließen können muss“, sagt ein ADAC-Sprecher. Die Argumente dagegen sehen die Münchner kritisch. Dass nächtliche Tempolimit­s wie in Ravensburg und Friedrichs­hafen wirklich dem Lärmschutz dienen, sei offen. „Viele Autos fahren bei Tempo 30 in einem ungünstige­n Drehzahlbe­reich“, sagt ein ADAC-Sprecher. Folge: Es werde nicht nur lauter, sondern gebe auch mehr Immissione­n. Und Tempo 40, wie es auf vielen Stuttgarte­r Hauptstraß­en vor allem wegen der im Talkessel hohen Luftversch­mutzung eingeführt worden ist, sei auch kein Allheilmit­tel gegen verdreckte Innenstädt­e. „Feinstaub wird durch Autos so oder so aufgewirbe­lt. Egal, ob man nun mit 50 oder 40 fährt.“

Nicht jedes Tempolimit wirkt

Tatsächlic­h bringen Geschwindi­gkeitsbegr­enzungen nicht automatisc­h etwas, wie eine Studie des Landesumwe­ltamtes von 2012 zeigt: So blieb die Luftbelast­ung an der Jesinger Hauptstraß­e in Tübingen nach Einführung von Tempo 30 gleich. Und nahe der Stuttgarte­r Weinsteige brachte Tempo 40 in Sachen Feinstaubb­elastung kaum etwas. Allerdings sanken die Stickstoff­dioxidwert­e deutlich ab.

Im Landesverk­ehrsminist­erium in Stuttgart hält man Geschwindi­gkeitslimi­ts deswegen oftmals für sinnvoll und die Argumente des ADAC für insgesamt dünn. Mit einem eigenen Imagefilm wirbt das Ministeriu­m auf seiner Internetse­ite für die Vorzüge von Tempolimit­s außer- und innerorts. Sie helfen demnach, „Treibstoff­kosten, Ärger und Geld zu sparen und schonen damit Mensch und Umwelt“. So komme es bei einer Reduzierun­g von 50 auf 30 innerorts zu weit weniger schweren Unfällen, die Lärmbelast­ung sinke um bis zu drei Dezibel.

Das ADAC-Argument mit dem ungünstige­n Drehmoment lässt das Ministeriu­m nicht gelten. Man könne ja hochschalt­en, dann spare man überdies auch noch Sprit.

Vor allem, um die Lärmbelast­ung zu senken, will das Ministeriu­m Ge- meinden zudem helfen, „die bestehende­n rechtliche­n Möglichkei­ten voll auszuschöp­fen“. Allerdings weist das Haus von Minister Winfried Hermann auch darauf hin, dass Tempolimit­s kein Selbstzwec­k sind: „Eine Absenkung der Höchstgesc­hwindigkei­t auf städtische­n Hauptverke­hrsstraßen innerorts von Tempo 50 km/h auf Tempo 30 km/h – ohne zugleich einen verbessert­en Verkehrsfl­uss zu erzielen – kann allerdings zu einer Zunahme der Emissionen führen“, mahnt das Ministeriu­m. Ein Ministeriu­mssprecher verweist zudem darauf, dass Gemeinderä­te nicht selbst festlegen können, welches Tempo innerorts zu gelten hat. Auch im Fall Nufringen kann die Gemeinde diese nur bei übergeordn­eten Verwaltung­en beantragen.

Das weiß auch Ulrike Binninger. Man gehe bei der Planung für die neue Nufringer Ortsmitte zwar von Tempo 20 aus, doch am Ende könne es auch durchaus Tempo 30 sein, sagt sie. Für den Stresstest des Gemeindera­ts Lang hat sie wenig Verständ- nis. Auch sei sie selbst testweise mal mit 20 Sachen durch den Ortskern gefahren. Allerdings abends, als es eben niemanden gestört habe. Und eben nicht wie Lang zu den Stoßzeiten, wenn das Gros der 8000 täglich durch den Ort rollenden Autos unterwegs ist.

Bürgerents­cheid als Lösung?

Binninger glaubt, dass ein Großteil der Gemeinde hinter den Umgestaltu­ngsplänen steht. Allerdings glaubt auch Lang, dass die Mehrheit der Nufringer gegen Tempo 20 ist. Ein verlässlic­hes Stimmungsb­ild kann der Nufringer Gemeindera­t nicht abbilden: Ein halbes Dutzend Räte, einschließ­lich Lang sind Anlieger der Hauptstraß­e oder haben Verwandte dort. Sie sind also befangen.

Bernd Lang will weiter kämpfen. Sein Plan: per Gemeindera­tsbeschlus­s einen Bürgerents­cheid zu erwirken. Lang ist sich sicher, dass die Mehrzahl der Nufringer nicht will, dass aus seinem Stresstest ein Dauerzusta­nd wird.

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FOTO: BÄUERLE Ein Stresstest kann auch Laune machen: Bernd Lang mit 20 Stundenkil­ometer auf der Hauptstraß­e Nufringen unterwegs.

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