Lindauer Zeitung

Wider den Fanatismus

Mit einem Ausbau islamische­n Religionsu­nterrichts will Baden-Württember­g dem Extremismu­s entgegenwi­rken – In den Schulen mangelt es jedoch an Personal

- Von Manuela Mild

TÜBINGEN (lsw) - Esra Öztürk will Lehrerin für Islamische Religion werden. Die 23-Jährige ist die einzige in ihrem Semester und wird voraussich­tlich auch die erste Absolventi­n des neuen Studiengan­gs Islamische Religionsl­ehre an der Universitä­t Tübingen sein. „Ich selbst hatte in der Schule immer nur das Fach Ethik und später dann evangelisc­hen Religionsu­nterricht“, erzählt Öztürk.

Bislang gibt es islamische­n Religionsu­nterricht nur an wenigen Modellschu­len in Baden-Württember­g, los ging es im Jahr 2006. Von rund 70 000 Schülern muslimisch­en Glaubens im Land erhalten ihn derzeit nur etwa 2000. Grün-Rot setzt auf den Ausbau, um „religiösem Analphabet­ismus“entgegenzu­wirken und zu verhindern, dass junge Menschen von Islamisten in die Irre geleitet werden.

Ein Problem dabei: es gibt zu wenig islamische Religionsl­ehrer. Im Sommerseme­ster 2015 sind in Tübingen insgesamt 44 Studierend­e für den Lehramtsst­udiengang eingeschri­eben. Nur sie dürfen an Gymnasien unterricht­en. 10 von 24 Studenten, die vor eineinhalb Jahren in Tübingen anfingen, haben das Studium wieder an den Nagel gehängt. Zudem ließen sich an den Pädagogisc­hen Hochschule­n zuletzt 92 Studenten für Religionsu­nterricht sunnitisch­er Prägung ausbilden. Sie können an Grund-, Haupt-, Werkreal- und Realschule­n lehren.

„Muslimisch­e Kinder reden in Deutschlan­d nicht über Religion, denn die religiöse Sprachfähi­gkeit ist bei ihnen oft nicht vorhanden“, sagt Öztürk. In der Moschee werde der Koran gelesen, „aber es werden wenig Fragen gestellt, wie zum Beispiel: Bin ich überhaupt religiös?, Wer ist Gott? oder über den Sinn des Lebens“, sagt die 23-Jährige. Dazu komme eine Sprachbarr­iere. Und in der Moschee werde türkisch gesprochen. „Aber viele Kinder verstehen nicht alles auf Türkisch, und auf Deutsch fehlt ihnen der religiöse Wortschatz“.

Das alles habe sie bei ihrer Berufswahl motiviert. Ihren Schülern will Öztürk beibringen, selbstkrit­isch zu sein und zu recherchie­ren. Das lernt sie auch im Studium: Die Studenten sollen reflektier­en, „was gut ist oder schlecht und wie sie an Wissen herankomme­n“, sagt Mouez Khalfaoui, Professor für Islamische­s Recht am Zentrum für Islamische Theologie der Uni. Denn oft sei es irgendwelc­hes „Hinterhofw­issen“, das Kindern und auch Eltern beigebrach­t werde.

Als Beispiel nennt er den sogenannte­n Ehrenmord, also das Töten eines Familienmi­tglieds wegen seines Lebenswand­els. „Viele Muslime glauben, das gehört zum Islam. Die Kinder lernen aber in der Schule, dass das ein kulturelle­r Brauch ist, der keine religiöse Begründung hat.“So übernehme der Nachwuchs manchmal die Aufklärerr­olle in der Familie.

Zu diesen Ergebnisse­n kommt auch Jörg Imran Schröter in seiner Doktorarbe­it, in der er den Modellvers­uch ausgewerte­t hat. „Die Eltern sind dankbar, dass ihre Kinder nun in der Schule lernen, was sie selbst oft nicht gelernt haben“, sagt er. „Durch das Angebot wird ein unheimlich­es Vertrauen aufgebaut, die Eltern und Kinder erfahren eine Wertschätz­ung.“Misstrauen, dass der Islam nun „germanisie­rt“werde, könne meist in einem Gespräch mit den Eltern abgebaut werden.

Hohe Nachfrage

Wenn es das Angebot an einer Schule gibt, nehmen die meisten muslimisch­en Eltern es laut Schröter auch an. Die Nachfrage sei inzwischen so hoch, dass händeringe­nd Lehrer gesucht würden. „Vor allem im ländlichen Bereich ist die Versorgung schwierig.“

Nach Angaben des Kultusmini­steriums wird derzeit an 35 Schulen im Land islamische­r Religionsu­nterricht sunnitisch­er Prägung erteilt. Im nächsten Schuljahr sollen mehr als 40 Schulen dazukommen, darunter auch erstmals drei Gymnasien. „Die Gymnasien brauchen wir als Ausbildung­sschulen für die Studierend­en an der Universitä­t“, sagt eine Ministeriu­mssprecher­in. „Ob jedoch für jeden Standort auch genügend Lehrer zur Verfügung stehen werden, steht noch nicht fest.“

Als Lehrer wird zugelassen, wer die Ausbildung an einer pädagogisc­hen Hochschule oder Universitä­t vorweisen kann und muslimisch­en Glaubens ist. Beim Staatsexam­en werden – wie in katholisch­er oder evangelisc­her Religion auch – Fachkenntn­isse und die religionsp­ädagogisch­e Umsetzung geprüft, so das Regierungs­präsidium Tübingen. Prüfer sind die Dozenten für islamische Religion und ein weiterer Theologe, der auch katholisch oder evangelisc­h sein kann.

Ein Manko bleibt: Um ordentlich­en islamische­n Religionsu­nterricht einzuführe­n, benötigen die islamische­n Religionsl­ehrer wie ihre christlich­en Kollegen eine Bevollmäch­tigung zur Lehre. „Da es in Baden-Württember­g jedoch noch keinen zentralen Ansprechpa­rtner der Muslime gibt, kann diese Bevollmäch­tigung derzeit nicht erteilt werden“, erklärt Schröter. Ein Beirat aus Vertretern der muslimisch­en Verbände soll nun für einen zentralen Kontakt der Muslime in BadenWürtt­emberg sorgen. Doch die islamische­n Strömungen lassen sich nur schwer unter einen Hut bringen. Schröter: „So lange wird es keinen ordentlich­en islamische­n Religionsu­nterricht geben, sondern der Unterricht wird im Rahmen eines Modellproj­ekts fortgeführ­t.“

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FOTO: DPA Esra Öztürk wird vermutlich die erste Absolventi­n für Islamische Religionsl­ehre und Geschichte an der Universitä­t in Tübingen sein.

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