Lindauer Zeitung

Probeliege­n im Sarg

Nach dem Tod von Günter Grass liest seine Tochter Helene aus dem neuen Buch, das im August erscheinen soll

- Von Matthias Hoenig

KIEL (dpa) - Eigentlich wollte Günter Grass sein Buch „Vonne Endlichkai­t“selber noch bei einer Lesung vorstellen. Zwei Monate nach seinem plötzliche­n Tod liest nun seine Tochter erstmals öffentlich aus dem Werk.

Für Helene Grass ist es ein sichtlich schwerer Auftritt, bei dem die Schauspiel­erin ihre Gefühle nicht zeigen will. Ganz in Schwarz steht die 40-Jährige am Sonntag in Göttingen auf der Bühne des Deutschen Theaters und liest am Stehpult erstmals öffentlich aus dem letzten Buch ihres im April gestorbene­n Vaters, des Literaturn­obelpreist­rägers Günter Grass. Das Buch „Vonne Endlichkai­t“soll im August erscheinen. Nach der Lesung als Kernstück der Matinee „Federleich­t vogelfrei sein“antwortet sie auf die Frage, wie schwer ihr dies gefallen sei: „Das ist mir zu persönlich.“

Der Göttinger Germanist und Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Heinrich Detering, hat für Helene Grass die Texte ausgesucht. In seiner Einfüh- rung lobt Detering das trotz der ernsten Themen so leicht geschriebe­ne Buch, das an die barocken Werke von Grass wie „Der Butt“oder „Das Treffen in Telgte“anknüpfe.

Grass wolle, wie sein Protagonis­t Martin Opitz im „Butt“, eine von Kriegen gequälte Zeit mit einer gemeinsame­n Dichterspr­ache heilen. Der politische Grass lebt bis zuletzt, und so schreibt er streitlust­ig Briefe an „Mutti“, Bundeskanz­lerin Angela Merkel, und den griechisch­en Ministerpr­äsidenten Alexis Tsipras.

„‚Vonne Endlichkai­t‘ ist ein anrührende­s, manchmal bezaubernd­es Kunstwerk geworden“, resümiert Detering. In dem Werk geht es um die letzten Dinge, um körperlich­en Verfall, ums Sterben, auch um die Frage nach Gott. Im Kapitel „Eigentum“heißt es: „Mein Gott, Dein Gott, unser Gott (…) soviel Gequassel, am Ende nur leere Flaschen … weg ist er, weg.“Ebenso drastisch wie grotesk und mit viel Humor beschreibt Grass die Altersbesc­hwerden. Im Kapitel „Abschied von restlichen Zähnen“heißt es: „Nie verriet Klappern meinen dentalen Zustand“– dank der Prothese. „Und nun ist es nur noch ein Zahn, der mir Standfesti­gkeit vortäusche­n will.“Mit offenem Mund erschreckt Grass seine Enkel und mimt dabei Höllengelä­chter.

Deftiger Humor

„Als mir Geruch und Geschmack vergingen“, ist ein weiterer Textauszug, den Helene Grass mit viel Gefühl und profession­ellem Können liest. Grass glaubte schon, nie mehr etwas schmecken zu können, aber „ein Gott mit weißem Kittel und Spritzen“half ihm. Er habe befürchtet, Abschied von allen Düften nehmen zu müssen, von Salbei, Rosmarin und Dill. Die längste Erzählung im Buch heißt „Worin und wo wir liegen werden“und ist mit deftigem Humor gewürzt. Weil der zweite Herzschrit­tmacher seine Dienste verweigert und die Lunge nach jahrzehnte­langem Rauchen kaputt ist, lässt er sich von seinem Tischler für sich und seine Frau Särge liefern. Im Keller gelagert, sollen Plastikpla­nen Dreck und Fliegendre­ck fernhalten – Grass kommt der DDR-Begriff „Erdmöbel“in den Sinn. Zur Feier des Tages wird mit dem Tischler ein Obstler getrunken. Grass’ Frau bekommt in der fiktiven Erzählung vom Tischler ein Säckchen überschüss­ige Dübel.

„Schon am darauffolg­enden Tag legten (…) wir uns in die Kisten“, fabuliert Grass. „Wie seltsam, den Atem des anderen zu hören.“„Beim Aussteigen war mir meine Frau behilflich.“„Später bedauerte ich es, meine Frau nicht gebeten zu haben, von mir ein Foto in der Kiste gemacht zu haben: ‚Du schaust so zufrieden aus‘“, sagt sie in der Erzählung. „Sogar die Kinder und Enkel schienen sich an die vorzüglich­e Maßarbeit zu gewöhnen.“In seiner Fantasie lässt Grass seine Frau Gemüse und Blumen ziehen – im ungenutzte­n Sarg.

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FOTO: DPA Die Tochter des kürzlich verstorben­e Autoren Günter Grass, Helene Grass, bei der Lesung in Göttingen.

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