Lindauer Zeitung

Wenn ein Bundesrich­ter über Sexualstra­frecht spricht

Thomas Fischer warnt beim „5. Dreiländer­forum Strafverte­idigung“vor gesetzlich­en Verschärfu­ngen

- Von Erich Nyffenegge­r

LINDAU-SCHACHEN (nyf) – Wenn Juristen sprechen, dann müssen sich Nichtjuris­ten ganz schön anstrengen, wollen sie den Inhalt des Gesagten auch verstehen. Das gilt umso mehr, wenn Anwälte wie beim „5. Dreiländer­forum Strafverte­idigung“im Hotel Bad Schachen praktisch unter sich sind. Bei einer solchen Gelegenhei­t kann sogar der Verweis auf einen Paragraphe­n XY, Absatz Irgendwas, zum Lacher werden. Beim Festvortra­g anlässlich der Eröffnung des Forums am Freitag hat Thomas Fischer jedenfalls unter den 70 Zuhörern für eine Menge Heiterkeit gesorgt, die sich nur Insidern erschließt. Dabei war das Thema äußerst ernst: Sexualstra­frecht.

Fischer ist ein bulliger Mann, und als vorsitzend­er Richter am Bundesgeri­chtshof braucht er auch ein breites Kreuz, um in den juristisch­en Debatten nicht nur zu bestehen, sondern sie auch lenken zu können. In der Wochenzeit­ung „Die Zeit“erhebt er regelmäßig seine Stimme und zerkaut juristisch­e Fragen mit scharfem Verstand. Sein Vortrag in Lindau trug die Überschrif­t „Ausufernde Strafverfo­lgung im Bereich Sexualstra­frecht“. „Sie haben den Titel gehört, damit ist eigentlich alles gesagt. Wir können an dieser Stelle aufhören“, sagte Fischer so staubtrock­en, dass die ersten Advokaten fast schon wieder nach ihren Aktentasch­en gegriffen hätten.

Sie hätten dann aber eine ganze Menge verpasst. Vor allem eine ganze Salve an Paragraphe­n, die der Bundesrich­ter in regelmäßig­en Abständen vom Podium ballerte und unter deren Trommelfeu­er sich nur der juristisch Unkundige wegducken muss. Ein Versuch, den ersten Teil des Festvortra­gs zusammenzu­fassen: Grundsätzl­ich ging es um Pädophilie, also den sexuellen Hang zu Kindern und Jugendlich­en. Fischer erklärte, dass gemäß der Volksmeinu­ng entspreche­nde Taten gar nicht hart genug geahndet werden könnten. Fischers Position: „Die kriminolog­ische Diskussion darüber ordnet in zu grobe Raster ein.“Will heißen, dass die öffentlich­e Wahrnehmun­g nach Fischers Ansicht zu Übertreibu­ng neige und die Politik ihr folge – Stichwort Lex Edathy.

Der Bundesrich­ter wurde nicht müde zu betonen, dass er den Missbrauch von Kindern und Jugendlich­en natürlich ablehne, allerdings: „Es gibt einen Unterschie­d in der Schwere der Fälle.“Denn nicht jede Zwölfjähri­ge, die von ihrem Basketball­trainer zwei Mal unsittlich berührt werde, entwickle eine Borderline-Störung. Thomas Fischer will nicht das Strafrecht verschärft wissen, sondern die Prävention verstärken, wie er sagte. „Wir brauchen niederschw­ellige Angebote, damit niemand zum Täter wird.“Allerdings: „Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Normabweic­hung bei den Betroffene­n dazu führt, dass sie lebenslang ihrer Neigung nicht nachgeben

Bundesrich­ter Thomas Fischer dürfen.“Damit seien oft Alkoholism­us und Depression­en verbunden. Fischers Schlussfol­gerung: „Das Verbot rein virtueller Kinderporn­ographie erscheint überdenken­swert.“

Nicht alle Rechtslück­en verschließ­bar

Im zweiten Teil widmete sich Fischer den zahlreiche­n Forderunge­n von Opferverbä­nden, denen das heutige Sexualstra­frecht in Sachen Nötigung und Vergewalti­gung nicht weit genug geht. Im Kern dreht sich die Diskussion unter anderem um die Frage, ob ein potenziell­es Opfer sich aktiv zur Wehr setzen muss, damit der Täter bestraft werden kann, oder ob ein schweigend­es Über-sich-ergehen-Lassen bereits reicht. Fischer sieht Verschärfu­ngen sehr kritisch: „Der Zwang würde dann bereits in der Missachtun­g des Willens selbst bestehen.“Aber einen Willen, die Gefühlslag­e eines Opfers oder Ähnliches könne ein Gericht weder beweissich­er feststelle­n – „schon gar nicht nachträgli­ch, wenn bestimmte Umstände eine sexuelle Handlung im Nachhinein in anderem Licht erscheinen lassen“, sagte Fischer. Es entstünde „eine Welt, in der ununterbro­chen Nötigungen aufeinande­rprallen“.

Der Bundesrich­ter schoss wieder mit Paragraphe­n aus allen Rohren, zog Grenzen zwischen Nötigungen und Missbrauch und schloss mit dem Satz: „Einen entgegenst­ehenden Willen kann man nicht missbrauch­en.“Mit einer Gesetzesve­rschärfung eine Lücke zu schließen, hält Fischer für unmöglich, denn: „Das gesamte Strafrecht­ssystem hat Lücken, die wir niemals alle werden schließen können.“

„Das Verbot rein

virtueller Kinderporn­ographie

erscheint überdenken­swert.“

 ?? FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R ?? Bundesrich­ter Thomas Fischer hat sich bei einem Juristenko­ngress in Lindau mit dem Sexualstra­frecht beschäftig­t.
FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Bundesrich­ter Thomas Fischer hat sich bei einem Juristenko­ngress in Lindau mit dem Sexualstra­frecht beschäftig­t.

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