Wenn ein Bundesrichter über Sexualstrafrecht spricht
Thomas Fischer warnt beim „5. Dreiländerforum Strafverteidigung“vor gesetzlichen Verschärfungen
LINDAU-SCHACHEN (nyf) – Wenn Juristen sprechen, dann müssen sich Nichtjuristen ganz schön anstrengen, wollen sie den Inhalt des Gesagten auch verstehen. Das gilt umso mehr, wenn Anwälte wie beim „5. Dreiländerforum Strafverteidigung“im Hotel Bad Schachen praktisch unter sich sind. Bei einer solchen Gelegenheit kann sogar der Verweis auf einen Paragraphen XY, Absatz Irgendwas, zum Lacher werden. Beim Festvortrag anlässlich der Eröffnung des Forums am Freitag hat Thomas Fischer jedenfalls unter den 70 Zuhörern für eine Menge Heiterkeit gesorgt, die sich nur Insidern erschließt. Dabei war das Thema äußerst ernst: Sexualstrafrecht.
Fischer ist ein bulliger Mann, und als vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof braucht er auch ein breites Kreuz, um in den juristischen Debatten nicht nur zu bestehen, sondern sie auch lenken zu können. In der Wochenzeitung „Die Zeit“erhebt er regelmäßig seine Stimme und zerkaut juristische Fragen mit scharfem Verstand. Sein Vortrag in Lindau trug die Überschrift „Ausufernde Strafverfolgung im Bereich Sexualstrafrecht“. „Sie haben den Titel gehört, damit ist eigentlich alles gesagt. Wir können an dieser Stelle aufhören“, sagte Fischer so staubtrocken, dass die ersten Advokaten fast schon wieder nach ihren Aktentaschen gegriffen hätten.
Sie hätten dann aber eine ganze Menge verpasst. Vor allem eine ganze Salve an Paragraphen, die der Bundesrichter in regelmäßigen Abständen vom Podium ballerte und unter deren Trommelfeuer sich nur der juristisch Unkundige wegducken muss. Ein Versuch, den ersten Teil des Festvortrags zusammenzufassen: Grundsätzlich ging es um Pädophilie, also den sexuellen Hang zu Kindern und Jugendlichen. Fischer erklärte, dass gemäß der Volksmeinung entsprechende Taten gar nicht hart genug geahndet werden könnten. Fischers Position: „Die kriminologische Diskussion darüber ordnet in zu grobe Raster ein.“Will heißen, dass die öffentliche Wahrnehmung nach Fischers Ansicht zu Übertreibung neige und die Politik ihr folge – Stichwort Lex Edathy.
Der Bundesrichter wurde nicht müde zu betonen, dass er den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen natürlich ablehne, allerdings: „Es gibt einen Unterschied in der Schwere der Fälle.“Denn nicht jede Zwölfjährige, die von ihrem Basketballtrainer zwei Mal unsittlich berührt werde, entwickle eine Borderline-Störung. Thomas Fischer will nicht das Strafrecht verschärft wissen, sondern die Prävention verstärken, wie er sagte. „Wir brauchen niederschwellige Angebote, damit niemand zum Täter wird.“Allerdings: „Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Normabweichung bei den Betroffenen dazu führt, dass sie lebenslang ihrer Neigung nicht nachgeben
Bundesrichter Thomas Fischer dürfen.“Damit seien oft Alkoholismus und Depressionen verbunden. Fischers Schlussfolgerung: „Das Verbot rein virtueller Kinderpornographie erscheint überdenkenswert.“
Nicht alle Rechtslücken verschließbar
Im zweiten Teil widmete sich Fischer den zahlreichen Forderungen von Opferverbänden, denen das heutige Sexualstrafrecht in Sachen Nötigung und Vergewaltigung nicht weit genug geht. Im Kern dreht sich die Diskussion unter anderem um die Frage, ob ein potenzielles Opfer sich aktiv zur Wehr setzen muss, damit der Täter bestraft werden kann, oder ob ein schweigendes Über-sich-ergehen-Lassen bereits reicht. Fischer sieht Verschärfungen sehr kritisch: „Der Zwang würde dann bereits in der Missachtung des Willens selbst bestehen.“Aber einen Willen, die Gefühlslage eines Opfers oder Ähnliches könne ein Gericht weder beweissicher feststellen – „schon gar nicht nachträglich, wenn bestimmte Umstände eine sexuelle Handlung im Nachhinein in anderem Licht erscheinen lassen“, sagte Fischer. Es entstünde „eine Welt, in der ununterbrochen Nötigungen aufeinanderprallen“.
Der Bundesrichter schoss wieder mit Paragraphen aus allen Rohren, zog Grenzen zwischen Nötigungen und Missbrauch und schloss mit dem Satz: „Einen entgegenstehenden Willen kann man nicht missbrauchen.“Mit einer Gesetzesverschärfung eine Lücke zu schließen, hält Fischer für unmöglich, denn: „Das gesamte Strafrechtssystem hat Lücken, die wir niemals alle werden schließen können.“
„Das Verbot rein
virtueller Kinderpornographie
erscheint überdenkenswert.“