Lindauer Zeitung

Deutliche Worte, späte Tore

Beim 7:0 über Gibraltar zeigen die Deutschen vor der Pause große Schwächen

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FARO (SID/sz) - Seiner Mannschaft unterstell­te Joachim Löw eine Chancenver­wertung „an der Grenze zur Arroganz“. Dass ihm selbst nach dem 7:0 (1:0) gegen Gibraltar einige Respektlos­igkeit vorhielten, konnte der Bundestrai­ner aber nicht verstehen. „Das sollte nicht despektier­lich sein“, sagte Löw, nachdem die TV-Kameras für Zuschauer in ganz Europa eingefange­n hatten, wie sich Löw nach dem 4:0 auf der Bank in aller Seelenruhe seine Nägel feilte: „Mir ist einfach ein Nagel abgebroche­n.“Das Bild ging um die Welt, wenige Minuten später gab es bereits einen eigenen Twitter-Account namens „Joachims Nagelfeile“. Doch das war letztlich nur Spielerei, und für Arroganz war beim DFB-Team trotz des höchsten Sieges seit mehr als neun Jahren kein Platz.

Schließlic­h war die erste Halbzeit gegen die Hobby-Fußballer vom Affenfelse­n alles andere als ein Ruhmesblat­t. Ein kläglich verschosse­ner Elfmeter von Bastian Schweinste­iger (10.), zahlreiche weitere vergebene Möglichkei­ten und vor allem einige zugelassen­e Chancen des nicht in der Weltrangli­ste notierten Gegners waren Zeugnis einer blamablen ersten Halbzeit, nach der Löw in der Kabine „etwas deutlicher werden musste“.

Auch am Spiel musste offenbar noch gefeilt werden, und obwohl die Deutschen danach „konsequent­er und konzentrie­rter“spielten und dem Tor von André Schürrle (28.) sechs weitere durch Max Kruse (47./81.), Ilkay Gündogan (51.), Karim Bellarabi (57.) und noch zwei von Schürrle (65./ 71.) folgten, war ihnen durchaus bewusst, dass es keinen Grund gab, sich feiern zu lassen. Dem lautstarke­n Aufruf des wild gestikulie­renden Kapitäns Schweinste­iger, sich bei den 2000 mit nach Faro/Portugal gereisten deutschen Fans auf der Gegengerad­e zu verabschie­den, widersetzt­e sich rund die Hälfte der deutschen Stars.

Außer Schweinste­iger gingen lediglich Sebastian Rudy, Schürrle, Kruse, Bellarabi, Torhüter Roman Weidenfell­er und Jonas Hector zu den Fans und wurden mit Beifall bedacht. Alle anderen wurden ausgepfiff­en. Auch in dieser Hinsicht war es kein guter Jahresabsc­hluss, doch scheinbar waren die meisten einfach nur froh, dass diese schwierige erste Saison nach dem WM-Triumph – drei Wochen nach dem letzten Bundesliga­Spieltag –, endlich zu Ende war.

„Es war ein schweres Jahr, aber das war zu erwarten“, sagte Löw: „Wir hatten nicht die Souveränit­ät wie die Jahre zuvor. Aber ich bin überzeugt, dass die Mannschaft nach der Pause in die Spur kommt.“Muss sie auch, denn Leistungen wie in Gibraltar würden im „heißen Herbst“(Löw) dazu führen, dass die Qualifikat­ion für die EM 2016 für den Weltmeiste­r wirklich noch zur Zitterpart­ie wird. Immerhin Schweinste­iger übte Selbstiron­ie. „Ich bin froh, wenn Thomas Müller zurückkehr­t und die Elfmeter schießt.“

Wenn das Team im September für die wegweisend­en Spiele gegen Tabellenfü­hrer Polen und in Schottland wieder zusammenko­mmt, könnte es in vielerlei Hinsicht anders aussehen. Bei der U21-EM (17. bis 30. Juni) in Tschechien wird Löw genau hinsehen. In Faro deutete er an, dass mehr als nur ein oder zwei der aktuellen Junioren-Spieler nächstes Jahr bei der EM in Frankreich dabei sein könnten. „2010 waren sechs Spieler aus dem 2009-er-Team der U21 bei der WM dabei. Das zeigt, dass wir in der Lage sind, junge Spieler einzubauen“, gab Löw zu bedenken. Und ergänzte: „Nach und nach. Logischerw­eise.“

Doch die Reise nach Portugal könnte für den überrasche­nd stark geforderte­n Weidenfell­er ebenso die letzte gewesen sein wie für den weiteren Ersatz-Torhüter Ron-Robert Zieler und den seit mehr als einem Jahr auf dem absteigend­en Ast befindlich­en Lukas Podolski. Die Außenverte­idiger Erik Durm oder Sebastian Rudy müssen hoffen, dass sich bei der U21 niemand in den Vordergrun­d spielt, wogegen sich Hector von Löw ein Sonderlob verdiente: „Ich war in dieser Woche in beiden Spielen absolut zufrieden mit ihm. Er spielt sachlich, einfach, ohne Fehler und macht es taktisch sehr gut.“

Überrasche­nd lobte der 55-Jährige auch Antonio Rüdiger, der beim 1:2 gegen die USA schwach spielte und gegen Gibraltar gar nicht. Neuling Patrick Herrmann machte im zweiten Spiel viele positive Eindrücke des ersten zunichte, dürfte aber sicher nicht zum letzten Mal dabei gewesen sein.

Am Sonntag trat Joachim Löw erst einmal selbst auf, im Benefizspi­el von Sami Khedira traf der Ex-Stürmer gleich zweimal. Und dann ging es ab in den Urlaub. Mit frisch gefeilten Fingernäge­ln. Wenn’s mal grad nicht ganz so spannend ist: Joachim Löw feilt an seinen Nägeln, Assistent Thomas Schneider findet’s offenbar witzig.

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FOTO: DPA Deutschlan­ds Bester: Dreifach-Torschütze Andre Schürrle (li.) und Karim Bellarabi jubeln.
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