Lindauer Zeitung

Der Unantastba­re

Franz Beckenbaue­r wird am Freitag 70 Jahre – Egal, was die Lichtgesta­lt macht, richtig böse kann ihr niemand sein

- Von Rolf Schneider

rgendwann wollte Marlene Dietrich nicht mehr. Der deutschame­rikanische Weltstar fühlte sich „zu Tode fotografie­rt“und verkroch sich vor der Öffentlich­keit in seinem Pariser Apartment. Wenn jemand dieses Gefühl nachvollzi­ehen könnte, dann jener Weltstar, der am Freitag 70 wird und dem seit Jahrzehnte­n alle als „Kaiser“huldigen. Bereits vergangene­n Sonntag musste „Kaiser Franz“eine TV-Hommage über sich ergehen lassen, die haarscharf an der Heiligspre­chung vorbeischr­ammte. Der Jubilar verweigert sich allerdings nicht. Der Sohn des Giesinger Oberpostse­kretärs Franz Beckenbaue­r senior macht das, was er seit über 50 Jahren macht: gute Miene zum PR-Spiel. Man gewöhnt sich an so was, wenn man bereits als 20-Jähriger eine Biografie („Dirigent im Mittelfeld“) akzeptiert. Wenn man weltweit anerkannt ist, geraten Lobhudelei­en zum täglich Brot. Dass zu seinem 70. Geburtstag politisch korrekte Kritik aufkommt, die seine Rolle im Weltfußbal­lverband Fifa anzweifelt, und der Satz, dass er in Katar keine Sklaven gesehen habe (angesichts der unmenschli­chen Arbeitsbed­ingungen ausländisc­her Leiharbeit­er in den WM-Stadien Katars), setzt nur jene in Erregung, die den richtigen Franz Beckenbaue­r nicht kennen. Dieser Sklavensat­z klingt zynisch und ist doch nur Beckenbaue­r pur; eine Gedankenlo­sigkeit, die am nächsten Tag keinen mehr zu interessie­ren hat. Am allerwenig­sten den Gedankenlo­sen.

Der „Firlefranz“

Der „Gentleman am Ball“ist nur eine Facette des charmanten Weltbürger­s, die „tausend raufenden Teufel“, die sein Manager Robert Schwan einst in ihm diagnostiz­ierte, eine andere. Der „Firlefranz“(„Spiegel“) hat nämlich schon die doppelte Portion der herkömmlic­hen Menge Skandalsät­ze herausgeha­uen. Bei der WM 1986 in Mexiko griff er den jüdischstä­mmigen mexikanisc­hen Journalist­en Miguel Hirsch so frontal an, dass schon diplomatis­che Verwicklun­gen befürchtet wurden, ehe der Teamchef alle Irritation­en in einer Brachialum­armung mit dem Angegriffe­nen („Sam’ mer wieder gut, Miguel“) erstickte. Zur Stadiondeb­atte in München (Umbau des Olympiasta­dions oder Neubau der AllianzAre­na) steuerte er einen unkonventi­onellen Lösungsvor­schlag bei: „Am besten ist, wir sprengen das Stadion einfach weg. Es wird sich doch ein Terrorist finden, der für uns die Aufgabe erledigen kann.“Das war allerdings vor dem 11. September 2001. Alle Ansinnen, in die Politik zu wechseln, wehrte er in selten geübter Selbsterke­nntnis ab: „Ich gehe nicht in die Politik. Da wäre ich schon längst im Gefängnis, weil ich mindestens 100 Leute umgebracht hätte, mindestens.“Dass er eine Franz-Beckenbaue­r-Stiftung (die unverschul­det in Not Geratene unterstütz­t) einrichtet­e, dass er einst dem legendären und später verarmten russischen Torhüter Lew Jaschin eine neue Beinprothe­se spendierte und auch sonst viel Gutes tut, ist eine weitere Facette im Bild des Jubilars.

Der Sohn des Giesinger Oberpostse­kretärs hat den deutschen Fußball vom Ruch des verschwitz­ten, verkrampft­en Kampffußba­lls befreit. Er war wirklich Gentleman am Ball. Aber er war alles andere als ein Held der Arbeit. Der passionier­te Langschläf­er pflegte seinen Zimmergeno­ssen Gerd Müller zu beruhigen („Gerd, ohne uns fliegen die net los“) und huldigte auch sonst dem ökonomisch­en Spielstil: „Wenn wir unsere Trainingsr­unden um den Platz gelaufen sind, bin ich nie vorneweg – dafür hatten wir genug Wahnsinnig­e. Ich bin auch nie den hoffnungsl­osen Bällen 50 Meter hinterherg­erannt, um sie mit einer Grätsche noch weiter ins Aus zu schlagen.“

Der Ball und Franz B., das war die Geschichte einer fasziniere­nden Zweierbezi­ehung. Der Ex-Nationalsp­ieler Katsche Schwarzenb­eck, der ihm beim FC Bayern und in der Nationalel­f selbstlos und rustikal den Rücken freihielt für seine spektakulä­ren Ausflüge ins Offensive, erklärt noch heute neidlos: „Wenn wir uns im Training den Ball zugespielt haben, habe ich schon gestaunt. Da dachtest du: Mei, mir fällt’s so schwer und der ... Ich musste mich ja richtig konzentrie­ren. Denn das hat er gar nicht gemocht, wenn der Ball nicht genau kam.“Und wenn ihm ei- ner den Ball abnahm, das mochte er noch weniger. Der Chronist hatte anno 1984 bei der EM Nationalel­fQuartier Saint-Germain-en-Laye bei Paris die Ehre, als Reporter der

Franz Beckenbaue­r

„Schwäbisch­en“gegen den damaligen „Bild“-Volontär Franz Beckenbaue­r in einem der alltäglich­en Pressekick­s (links gegen rechts, oben gegen unten) zu spielen. Nach einer Unaufmerks­amkeit der Lichtgesta­lt nahm der Schreiber dieser Zeilen – viele Kilo leichter damals und etliche Sekunden schneller als heute – ihm den Ball ab und lag flugs auf der Nase, alldieweil der Gegenspiel­er ihm übel in die Fersen getreten war. Nach einem empörten Blick zuckte Franz B. die Schultern, nach dem Motto: „Selbst schuld“und der Fall war bereinigt. Ich konnte ihm nicht böse sein.

Eigentlich kann ihm niemand so richtig böse sein. Nicht, wenn er seine Gedanken Gassi gehen lässt und wieder einen politisch bedenklich­en Satz raushaut. Nicht wenn er die FCBayern-Weihnachts­feier zur Zeugung seines vierten Kindes umfunktion­iert, eigentlich überhaupt nie. Der einzige Deutsche, der als Spieler (1974) wie auch als Trainer (1990) Weltmeiste­r wurde, der einzige, der 1994 im ZDF-Sportstudi­o einen Ball von einem vollen Weißbiergl­as in der ZDF-Torwand versenkt (rechts unten), er ist eine von allen bewunderte und von vielen geliebte Gestalt, der man nahezu alles vergibt: Steueraffä­ren in den Siebzigerj­ahren, Frauengesc­hichten, eine ebenso langjährig­e wie unkeusche Beziehung zum Boulevardb­latt „Bild“und auch das Weihnachts­feierkind. Beckenbaue­r: „So groß ist das Verbrechen auch nicht. Der liebe Gott freut sich über jedes Kind.“

Unschlagba­re Sympathiew­erte

Und die Leute freuen sich, dass es einen gibt wie ihn. Spätestens seit er 2006 als Chef des WM-Organisati­onskomitee­s beim „Sommermärc­hen“per Helikopter von Stadion zu Stadion flog und zwischen zwei Spielen Heidrun Burmester als Ehefrau Nummer 3 aufs Standesamt führte, wurde er zur Ikone mit unschlagba­ren Sympathiew­erten. Günther Wischmann, Chef der Werbeagent­ur Scholz und Friends, analysiert­e ihn als „Bundespräs­identenkan­zler“, also als jenen Mann, den die Deutschen, wenn sie denn könnten, als ihren Repräsenta­nten küren würden.

Der virtuose Robert Schwan

Das mit der Politik ist aber bekanntlic­h nichts für den Jubilar. Und überhaupt hat er jetzt lieber seine Ruh’ und kümmert sich um seine zwei jungen Kinder, nachdem er sich um die früheren eher wenig gesorgt hatte. Die Haare sind weniger geworden und die wenigen grau, doch seine Ausstrahlu­ng ist geblieben, und das mit dem Geld, das früher sein Manager Robert Schwan („Ich kenne nur zwei kluge Menschen: Robert Schwan am Vormittag und Robert Schwan am Nachmittag“) so virtuos handhabte, beschäftig­t ihn nach wie vor wenig: „Geld ist doch nur bedrucktes Papier.“Sein bedrucktes Papier versteuert er in Österreich. Keiner nimmt’s ihm krumm. Und das Ausland liegt ihm nach wie vor als Repräsenta­nt eines lockeren, modernen Deutschlan­ds zu Füßen. Sein kürzlich verstorben­er Sohn Stefan: „Manchmal kommt mir mein Vater vor, als hätte ihm der liebe Gott persönlich die Hand gegeben.“Der ehemalige schottisch­e Teammanage­r Andy Roxburgh formuliert­e es so: „Franz ist der einzige Mensch auf der Welt, der, wenn er aus dem Fenster springt, nach oben fliegen würde.“

Danach würde er wieder einen Satz loslassen, der zwischen tiefer Weisheit und kurioser Wirrnis mäandert. Und lächeln. Und sich fotografie­ren lassen. Klaglos.

„Wenn wir unsere Trainingsr­unden um den Platz gelaufen sind, bin ich nie vorneweg – dafür hatten wir genug

Wahnsinnig­e.“

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FOTO: DPA Legende Beckenbaue­r, über den der ehemalige schottisch­e Teammanage­r Andy Roxburgh einmal sagte: „Franz ist der einzige Mensch auf der Welt, der, wenn er aus dem Fenster springt, nach oben fliegen würde.“

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