Lindauer Zeitung

Junckers deutliche Worte kommen an

EU-Kommission­spräsident hält Rede zur Lage der Europäisch­en Union – Viel Applaus

- Von Daniela Weingärtne­r und dpa

BRÜSSEL - Jean-Claude Juncker hätte seine große Rede zur Lage der Europäisch­en Union einfach absagen können. Am vergangene­n Sonntag starb seine Mutter, sein Vater liegt schwer krank im Krankenhau­s. Wohl kaum jemand hätte dem EU-Kommission­spräsident­en einen Vorwurf gemacht, wenn er diesen Mittwoch einfach in seiner Heimat Luxemburg verbracht hätte. Parlaments­präsident Martin Schulz nannte den Auftritt eine „Premiere“, da erstmals ein von den Abgeordnet­en ins Amt gewählter Kommission­schef diese Aufgabe übernehme.

Aber Juncker wollte seine Rede vor dem EU-Parlament in Straßburg nicht absagen. Seit Wochen muss er sich anhören, dass er in einer der schwersten Krisen der Europäisch­en Union kaum sichtbar sei, unzureiche­nd Initiative in der Flüchtling­spolitik zeige. Zu Unrecht, wie er findet. Schon im Mai hatte er schließlic­h mehrere Vorschläge präsentier­t, unter anderem ein System zur gerechten Verteilung von Asylsuchen­den. Nur, dass etliche EU-Staaten damals davon nichts wissen wollten.

An diesem Mittwoch nutzte Juncker nun die Chance für deutliche Worte – vor allem in Richtung derjenigen Hauptstädt­e, die sich bislang gegen verbindlic­he Quoten für die Aufnahme von Flüchtling­en sträuben. Habe man wirklich vergessen, dass 20 Millionen Menschen polnischer Abstammung infolge politisch und wirtschaft­lich motivierte­r Auswanderu­ngswellen, bedingt durch zahlreiche Grenzversc­hiebungen, Zwangsvert­reibungen und Zwangsumsi­edlungen außerhalb Polens leben? Das fragte Juncker provokativ an die Adresse der Regierung in Warschau. Er erinnerte daran, dass auch tschechisc­he und slowakisch­e Bürger nach der Unterdrück­ung des Prager Frühlings 1968 Exil in anderen europäisch­en Ländern gesucht hat- ten. „Wir Europäer sollten wissen und niemals vergessen, warum es so wichtig ist, Zuflucht zu bieten und für das Grundrecht auf Asyl einzustehe­n“, forderte Juncker. Was die gemeinsame Solidaritä­t im Umgang mit Flüchtling­en von außen angehe, bleibe Europa derzeit weit hinter dem eigenen Anspruch zurück. Es sei höchste Zeit zu handeln.

Die Mehrheit der Abgeordnet­en des Europaparl­aments zollte Juncker nach seinem Auftritt langen Applaus. Auch der CSU-Politiker Manfred Weber, Chef der konservati­ven Fraktion, kann sich mit dessen Zielen gut identifizi­eren. Mit einem Seitenhieb auf den slowakisch­en Regierungs­chef Robert Fico, der keine muslimi- schen Flüchtling­e in sein Land lassen will, sagte Weber: „Wir sind in Europa nicht stolz, dass wir die Christenre­chte erfunden haben, wir sind stolz, dass wir die Menschenre­chte erfunden haben – und die gilt es zu verteidige­n.“Die von der EU-Kommission nun erneut vorgeschla­gene Liste sicherer Herkunftss­taaten, in denen politische Verfolgung als unwahrsche­inlich gilt und deshalb Asylbewerb­er beschleuni­gt zurückgesc­hickt werden können, hält Weber für überfällig.

Am Montag wird sich beim Sondertref­fen der Innen- und Justizmini­ster zeigen, ob die- ser Egoismus überwunden werden kann. Die Kommission hat am Mittwoch eine ganze Liste von Vorschläge­n gemacht, wie einerseits das Dublin-Verfahren in Kraft bleiben kann und wie anderersei­ts im Krisenfall die Lasten gerecht zwischen den Mitgliedss­taaten verteilt werden können.

Deutschlan­d müsste nach diesem Schlüssel 31 000 von 120 000 über Griechenla­nd, Italien und Ungarn eingereist­er Flüchtling­e übernehmen – zusätzlich zu den knapp 9000 aus dem Kommission­svorschlag vom Mai, der eine Umverteilu­ng von 40 000 Flüchtling­en vorgesehen hatte.

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FOTO: AFP Trotz eines Trauerfall­s in seiner Familie kam EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch nach Straßburg – hier ist er im Gespräch mit dem Präsidente­n des Europäisch­en Parlaments, Martin Schulz.

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