Junckers deutliche Worte kommen an
EU-Kommissionspräsident hält Rede zur Lage der Europäischen Union – Viel Applaus
BRÜSSEL - Jean-Claude Juncker hätte seine große Rede zur Lage der Europäischen Union einfach absagen können. Am vergangenen Sonntag starb seine Mutter, sein Vater liegt schwer krank im Krankenhaus. Wohl kaum jemand hätte dem EU-Kommissionspräsidenten einen Vorwurf gemacht, wenn er diesen Mittwoch einfach in seiner Heimat Luxemburg verbracht hätte. Parlamentspräsident Martin Schulz nannte den Auftritt eine „Premiere“, da erstmals ein von den Abgeordneten ins Amt gewählter Kommissionschef diese Aufgabe übernehme.
Aber Juncker wollte seine Rede vor dem EU-Parlament in Straßburg nicht absagen. Seit Wochen muss er sich anhören, dass er in einer der schwersten Krisen der Europäischen Union kaum sichtbar sei, unzureichend Initiative in der Flüchtlingspolitik zeige. Zu Unrecht, wie er findet. Schon im Mai hatte er schließlich mehrere Vorschläge präsentiert, unter anderem ein System zur gerechten Verteilung von Asylsuchenden. Nur, dass etliche EU-Staaten damals davon nichts wissen wollten.
An diesem Mittwoch nutzte Juncker nun die Chance für deutliche Worte – vor allem in Richtung derjenigen Hauptstädte, die sich bislang gegen verbindliche Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen sträuben. Habe man wirklich vergessen, dass 20 Millionen Menschen polnischer Abstammung infolge politisch und wirtschaftlich motivierter Auswanderungswellen, bedingt durch zahlreiche Grenzverschiebungen, Zwangsvertreibungen und Zwangsumsiedlungen außerhalb Polens leben? Das fragte Juncker provokativ an die Adresse der Regierung in Warschau. Er erinnerte daran, dass auch tschechische und slowakische Bürger nach der Unterdrückung des Prager Frühlings 1968 Exil in anderen europäischen Ländern gesucht hat- ten. „Wir Europäer sollten wissen und niemals vergessen, warum es so wichtig ist, Zuflucht zu bieten und für das Grundrecht auf Asyl einzustehen“, forderte Juncker. Was die gemeinsame Solidarität im Umgang mit Flüchtlingen von außen angehe, bleibe Europa derzeit weit hinter dem eigenen Anspruch zurück. Es sei höchste Zeit zu handeln.
Die Mehrheit der Abgeordneten des Europaparlaments zollte Juncker nach seinem Auftritt langen Applaus. Auch der CSU-Politiker Manfred Weber, Chef der konservativen Fraktion, kann sich mit dessen Zielen gut identifizieren. Mit einem Seitenhieb auf den slowakischen Regierungschef Robert Fico, der keine muslimi- schen Flüchtlinge in sein Land lassen will, sagte Weber: „Wir sind in Europa nicht stolz, dass wir die Christenrechte erfunden haben, wir sind stolz, dass wir die Menschenrechte erfunden haben – und die gilt es zu verteidigen.“Die von der EU-Kommission nun erneut vorgeschlagene Liste sicherer Herkunftsstaaten, in denen politische Verfolgung als unwahrscheinlich gilt und deshalb Asylbewerber beschleunigt zurückgeschickt werden können, hält Weber für überfällig.
Am Montag wird sich beim Sondertreffen der Innen- und Justizminister zeigen, ob die- ser Egoismus überwunden werden kann. Die Kommission hat am Mittwoch eine ganze Liste von Vorschlägen gemacht, wie einerseits das Dublin-Verfahren in Kraft bleiben kann und wie andererseits im Krisenfall die Lasten gerecht zwischen den Mitgliedsstaaten verteilt werden können.
Deutschland müsste nach diesem Schlüssel 31 000 von 120 000 über Griechenland, Italien und Ungarn eingereister Flüchtlinge übernehmen – zusätzlich zu den knapp 9000 aus dem Kommissionsvorschlag vom Mai, der eine Umverteilung von 40 000 Flüchtlingen vorgesehen hatte.