Vom Erstarren einer Ehe
„45 Years“– Charlotte Rampling und Tom Courtenay im Film ihres Lebens
s ist diese vertraute Zweisamkeit, ein eingespieltes Team verrät: Blicke, Gesten, Bemerkungen, die keiner weiteren Erklärung bedürfen, man weiß ja, was gemeint ist. Seit 45 Jahren sind Kate und Geoff ein Paar, miteinander sind sie alt geworden in ihrem Häuschen dort oben in Nordengland. Dann diese Nachricht, die alles durcheinanderwirft: In den Schweizer Alpen hat man eine Frau im Gletschereis gefunden, die vor fast fünf Jahrzehnten dort abgestürzt und dann nie gefunden worden ist. Sie war Geoffs Freundin damals, Kates Vorgängerin.
Eine Geschichte, die an Johann Peter Hebels Kalendergeschichte „Unverhofftes Wiedersehen“erinnert, in der eine alte Frau ihren Geliebten wiedersieht, der Jahrzehnte im Eis unversehrt verborgen war. Doch während sie als Witwe vor dem jung aussehenden Leichnam steht, ging Geoffs Leben weiter, mit einer neuen Partnerin. Und jetzt bringt dieser Fund in den Alpen alles ins Wanken. Geoff wird völlig aus der Bahn geworfen, hegt zärtliche Erinnerungen an Katja (was wohl nicht zufällig ähnlich wie Kate klingt) und leidet durch diese unverhoffte Nachricht.
Kate, eigentlich beschäftigt mit den Vorbereitungen zu einer großen Feier zum 45. Hochzeitstag, spürt nach und nach, dass plötzlich ein Riss durch ihre so fest gefügte, selbstverständliche, ja: harmonische Ehe geht. Eifersucht über eine längst Verflossene zieht in das Landhaus ein, eine Ehe, die 45 Jahre gehalten hat, zerbröselt wegen eines lapidaren Behördenbriefs. Plötzlich eröffnet sich die Möglichkeit eines völlig anderen Lebens, das Geoff hätte führen können – und Kate natürlich auch. Wäre es das bessere gewesen? Unter dem dünnen Firnis der Normalität klaffen Abgründe.
Ein Kammerspiel im gemütlichen Haus mit Garten und Hund. Zwei grandiose Schauspieler machen daraus ein spannendes Stück, das bei der Berlinale im Februar verdient mit zwei Silbernen Bären für die besten Akteure ausgezeichnet wurde: Charlotte Rampling, deren festgefügte Welt in diesen wenigen Tagen zwischen Eingang des Briefs und der Feier im Dorfsaal implodiert, ist diese eigentlich souveräne, kühle, intelligente Kate, die zusehends von Entsetzen ergriffen wird. Tom Courtenay spielt diesen Geoff, der schon ein wenig tüdelig ist und sich nun in eine Welt zurückzieht, in der er vor allem trotzig schweigt. Was wäre wenn? Oder hat er doch alles richtig gemacht?
Beide, Rampling und Courtenay, haben ihre Karrieren zu einer Zeit begonnen, da die Katja-Episode geschehen ist. Natürlich bringen sie ihre jeweiligen Leben mit in diesen Film ein, hier Rampling, die jahrelang mondän, cool und eine Ikone des Selbstbewusstsein war. Da Courtenay, ein junger Wilder des Neuen Britischen Films zu Beginn der 1960er-Jahre, heute das Haar immer noch struppig, ein alter Linker im ländlichen Barbourjacken-Outfit. Regisseur Andrew Haigh, ein junger Mann, der hier erst seinen dritten Film gedreht hat, führt sie behutsam, mit Zurückhaltung und manchmal auch englischer Ironie. Am Ende haben beide eine der besten Leistungen ihrer langen Karriere absolviert.
Je näher das große Fest rückt – der Film ist nach den Tagen auf dem Weg dorthin getaktet – desto mehr erstarrt die Ehe. Hat sie doch noch eine Chance? Oder sind diese 45 Jahre, fast ein halbes Jahrhundert, verloren? Da sind die Kinder, gemeinsame Freunde, da hat man, wie man so sagt, ein Leben geteilt, gemeinsam viel erlebt, zusammen Tee getrunken. Einander abendlich Gute Nacht gesagt, und manchmal auch nicht. Kann das wegen eines Briefs vergessen sein?