Lindauer Zeitung

Der Rekord-Oberbürger­meister tritt ab

36 Jahre lang war Ivo Holzinger Stadtoberh­aupt von Memmingen – ein Sonderfall in Deutschlan­d

- Von Uwe Jauß

MEMMINGEN - Wochenmark­t in der Memminger Altstadt. Oberbürger­meister Ivo Holzinger hat das historisch­e Rathaus der zwischen Unterallgä­u und Oberschwab­en gelegenen Stadt gerade verlassen. Ein paar Schritte weiter trifft er auf die ersten Stände mit Käse und Wurst. „Ach, der Herr Oberbürger­meister“, spricht ihn gleich eine Frau an. „Frisch heute morgen.“Ein warmes Lächeln huscht über Holzingers Gesicht. „Ja, der Winter kommt. Jetzt muss man sich gut anziehen“, meint das 68 Jahre alte Stadtoberh­aupt locker.

Wohlgemut zieht die Frau weiter zum Einkaufen. Ein kurzes, nettes Holzinger-Intermezzo. Aus der Distanz eines Beobachter­s gesehen, lässt es ein wenig ahnen, weshalb er Deutschlan­ds dienstälte­ster Oberbürger­meister werden konnte. Holzinger könne eben unglaublic­h gut Menschen aus allen Gesellscha­ftsschicht­en für sich einnehmen, sagen Weggefährt­en.

Mehr als sein halbes bisheriges Leben steht der eher zierlich wirkende Holzinger den Memmingern vor – insgesamt 36 Jahre. Sechsmal wurde er gewählt. Die Jüngeren in der Stadt mit ihren knapp 43 000 Einwohnern kennen gar keinen anderen Oberbürger­meister. Anfang November ist aber Schluss. Altershalb­er muss er aus dem Amt scheiden. Ein ganz neues Gefühl für Memmingen. Holzinger war ja immer als unverrückb­ar erschienen. Obwohl mit SPD-Parteibuch versehen, wirkte er überpartei­lich. „Als Oberbürger­meister geht das gar nicht anders“, glaubt der Rathaus-Veteran.

Immer mit absoluter Mehrheit

Seine politische­n Gegner scheiterte­n reihenweis­e. Bei der letzten Oberbürger­meister-Wahl 2010 sollte ihm stark zugesetzt werden. Als Motto galt: „Memmingen braucht ein neues Gesicht.“Durch ein Aufgebot von fünf Gegenkandi­daten sollte Holzinger zumindest in eine Stichwahl gezwungen werden. Vergeblich. Er holte gleich im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit – so wie immer. Zeitweise hatte die Zustimmung bei über 80 Prozent der abgegebene­n Stimmen gelegen.

Allein mit seiner oft von Bürgern gelobten Volkstümli­chkeit ist dies jedoch nicht zu erklären. Ein Blick zurück hilft dabei, dem Phänomen Holzinger weiter auf die Spur zu kommen. Der promoviert­e Jurist und Wirtschaft­swissensch­aftler stammt aus Aalen, ist also Württember­ger. 1980 hatte er gerade eine Stelle beim Bundesfina­nzminister­ium angetreten, konnte sich aber gleichzeit­ig vorstellen, in die Kommunalpo­litik zu gehen. „Freunde sagten mir, dass in Memmingen die Stelle des Oberbürger­meisters frei wird“, erzählt Holzinger. Er stellte sich zur Wahl, gewann.

Memmingen galt seinerzeit als angestaubt­e, abgehängte Landstadt irgendwo zwischen Ulm, München und dem Bodensee. Bemerkensw­ert war nur die Vergangenh­eit. Bis zum Jahr 1803 war Memmingen freie Reichsstad­t gewesen. Erhalten gebliebene prächtige Patrizierh­äuser zeugen von früherem Ruhm. Er verblasste später völlig. Als Memmingen dennoch mal vor knapp 30 Jahren bundesweit in die Schlagzeil­en kam, ging es um den Prozess gegen einen örtlichen Gynäkologe­n, der wegen illegaler Abtreibung­en angeklagt war. Die Stadt erschien dabei als ein Hort von überholtem Gedankengu­t. Von „Memminger Hexenproze­ssen“schrieb „Der Spiegel“. Anders als ehedem liegt die Stadt heutzutage verkehrsgü­nstig. Zwei Autobahnen kreuzen sich dort. Die zentrale Bahnlinie von München her und weiter zum Bodensee wird demnächst elektrifiz­iert sein. Aus dem benachbart­en Fliegerhor­st Memmingerb­erg ist ein regionaler Zivilflugh­afen geworden, der Allgäu Airport. Vor allem im Norden dehnen sich nun weite Industrieg­ebiete aus. Im bayerische­n Bezirk Schwaben ist Memmingen nach Augsburg die wirtschaft­sstärkste Stadt mit rund 30 000 Arbeitsplä­tzen geworden. „Kulturell gesehen hat es in den vergangene­n Jahren immer wieder überregion­al beachtete Theaterauf­führungen gegeben“, erwähnt Holzinger. Dass die sanierte Altstadt als Ausflugszi­el lockt, lässt sich während eines Spaziergan­gs feststelle­n.

Viel Arbeit steckt hinter dem Aufstieg Memmingens. Für Holzinger bedeutete dies wenig Zeit für seine Frau und den gemeinsame­n Sohn. Hobbys wie Kartenspie­len, Fahrradode­r Skifahren mussten auf Sparflamme betrieben werden. Auch Engagement­s wie beim Roten Kreuz waren alles andere als ausufernd. „Oberbürger­meister zu sein, bedeutet letztlich, ständig im Dienst zu sein“, beschreibt er sein Amtsverstä­ndnis. Holzinger neigt jedoch nicht dazu, die positive Entwicklun­g der Stadt als seinen alleinigen Verdienst zu beanspruch­en. Wo er ursprüngli­ch herkommt, stellt man sein Licht eher unter den Scheffel. Ihm ist zudem klar: „Erfolg braucht viele Beteiligte.“

Wogegen er sich aber nicht wehren kann, ist die Verknüpfun­g des Erfolgs mit seinem Namen. Das Gros der Bürger konnte zufrieden sein. Weitere Weichen wurden jüngst gestellt. Am Autobahnkr­euz soll sich der schwedisch­e Möbelriese Ikea ansiedeln dürfen. „Es muss aber darauf geachtet werden, dass dadurch der Einzelhand­el in der Innenstadt nicht geschädigt wird“, sagt Holzinger. Dies sei jedoch die Aufgabe seines Nachfolger­s.

Kritik geht unter

Vier Kandidaten bewerben sich um den Posten. Jener von der SPD scheint nach einer aktuellen Umfrage die Nase vorn zu haben. Damit würde es zumindest eine parteilich­e Kontinuitä­t geben: Wobei nicht nur Holzinger Sozialdemo­krat ist. Auch dessen Vorgänger gehörte bereits zu dieser politische­n Richtung. Gleichzeit­ig wird der Stadtrat üblicherwe­ise schwarz dominiert – so wie der ganze Freistaat. Dies hat dazu geführt, dass der Rote zum Abschied von einem Schwarzen geehrt wurde. Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann überreicht­e Holzinger im Juli die Kommunale Verdienstm­edaille in Gold. Der CSU-Politiker lobte dessen „herausrage­ndes persönlich­es Engagement“und den „unermüdlic­hen Arbeitseif­er“. Dass es auch Kritik gibt, geht im Abschiedst­rubel fast unter. Vor Jahren wurden Holzinger Mauschelei­en bei einem kommunalen Grundstück­sgeschäft unterstell­t. Der Vorwurf kam von einem Stadtrat. Dieser hatte aber offenbar selber ein Auge auf die Immobilie geworfen und war nicht zum Zuge gekommen. Worauf die Geschichte im Sande verlief.

Mehr Ärger bringt Holzingers Engagement für den Allgäu Airport: „Ich bin von dessen Nutzen für die Stadt und die Region überzeugt.“Die Grünen sowie Ökoverbänd­e sehen ihn dagegen als Teufelszeu­g: Er sei nicht nur unwirtscha­ftlich, sondern auch umweltschä­dlich. Im Spätherbst vergangene­n Jahres hatten sie im Unterallgä­u und in Memmingen einen Volksentsc­heid erzwungen. Letztlich ging es darum, dass Landkreis wie Stadt den Flughafen nicht mehr unterstütz­en sollten. Die Bürger stimmten jedoch pro Airport.

„Ich gehe eigentlich ohne Wehmut. Vorbei ist vorbei. Dann kommt etwas anderes.“Ivo Holzinger

Fast schon skurril wirken jährlich wiederkehr­ende Attacken fanatische­r Tierschütz­er. Sie stören sich am traditione­llen Fischertag. Dabei wird der Stadtbach leer gefischt. Gut 1500 Fischer springen hierzu ins Wasser. Selbstvers­tändlich mit dabei: der Oberbürger­meister. „Das ist doch klar“, kommentier­t Holzinger. Ebenso lässt er sich die alle vier Jahre wiederkehr­enden Wallenstei­n-Tage nicht entgehen, ein Historiens­pektakel, das auf örtliche Ereignisse im Dreißigjäh­rigen Krieg zurückgeht. Zahlreiche Bürger nehmen verkleidet daran teil. Holzinger greift dann zu alten Gewändern und spielt sich selbst als Stadtoberh­aupt.

Viele Erinnerung­sstücke

Er meint: „Für das Selbstvers­tändnis Memmingens sind diese Feste ganz wichtig.“Nebenbei geben sie ihm die Möglichkei­t, nahe bei den Menschen zu sein. „Den Kontakt braucht man als Oberbürger­meister unbedingt.“Bedauerlic­herweise sei das politische Geschäft in den vergangene­n Jahrzehnte­n immer unpersönli­cher geworden, so ein Eindruck Holzingers. Paragrafen­reiterei gehe inzwischen vor Wärme.

Für ihn scheint der Job jetzt abgehakt. Einige schriftlic­he Unterlagen nimmt er zwar mit. Doch zig Erinnerung­sstücke aus den 36 Dienstjahr­en bleiben im Rathaus zurück, Festkrüge, Souvenirs der Partnerstä­dte, Porzellan oder Stiche. Sie zieren sein holzvertäf­eltes Büro im ersten Stock. „Was will ich damit? Daheim ist kein Platz“, sagt er. „Ich gehe eigentlich ohne Wehmut. Vorbei ist vorbei. Dann kommt etwas anderes.“

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FOTO: ROLAND RASEMANN Der scheidende Memminger Oberbürger­meister Ivo Holzinger (SPD) vor seinem Rathaus, in dem er 36 Jahre lang die Geschicke der Stadt leitete.

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