Lindauer Zeitung

Zum Aus-der-Haut-Fahren

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Kommentare wie „Sprache verändert sich halt. Da können Sie gar nichts machen!“handelt sich ein, wer gewisse Prozesse in unserer Alltagsspr­ache mit Argwohn verfolgt und dies auch noch kundtut. Natürlich kann man da nicht viel machen. Aber seinem Frust freien Lauf zu lassen, muss noch erlaubt sein. Oder soll man es hinnehmen, dass einem zum Beispiel auf Speisekart­en immer mehr grammatika­lischer Unsinn geboten wird? Forellen Filet mit Petersilie­n Kartoffeln und Kopf Salat?

Seit einigen Jahren nimmt die Aufweichun­g der deutschen Normen bei der Bildung von Komposita, in diesem Fall zusammenge­setzten Substantiv­en, stark zu. Wo früher nur die Zusammensc­hreibung oder allenfalls die Schreibung mit Bindestric­h erlaubt war, wird heute hemmungslo­s getrennt. Zu verdanken haben wir diese Manie dem Einfluss des Englischen. Da gibt es mehr Formen von Komposita als bei uns. Nur ein Beispiel: ladybird = Marienkäfe­r (zusammen), lady-killer = Herzensbre­cher (mit Bindestric­h), lady doctor = Ärztin (getrennt). Und da die dritte Variante, also die Trennung, im Englischen überwiegt, hat vor allem sie stark auf das Deutsche abgefärbt. Vor allem in der Werbebranc­he finden sich unzählige Beispiele, mal englischde­utsch gemischt, mal rein deutsch: Reifen Service, Jeans Laden, Kachelofen Center, Auto Markt, Feinkost Abteilung, Schmuck Paradies, Mode Wunderland,

Kinder Erlebniswe­lt, Senioren Treff etc. Und diese Springflut nimmt täglich zu. Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren. Oder zum Aus-der-Haut-fahren? Oder zum Ausderhaut­fahren? Schon sind wir bei einem anderen Sprachprob­lem. Es gibt im Deutschen unzählige substantiv­ierte Infinitive, also aus Verben entstanden­e Substantiv­e. Bestehen sie aus zwei Wörtern, so wird in der Regel zusammenge­schrieben. Drei Beispielsä­tze: Sie entspannen sich beim Walzertanz­en. Ein Rezept zum Schlankwer­den gibt es nicht. Er ist ein Meister im Sichverlie­ben. Bestehen diese substantiv­ierten Infinitive aus drei Wörtern, so kommt es auf die Länge an. Das Ingangsetz­en oder das Zuspätkomm­en können noch zusammenge­schrieben werden, aber die Bindestric­h-Schreibung wäre auch möglich: also das InGang-Setzen oder das Zu-spät-Kommen. Sobald aber bei Kombinatio­nen von drei oder gar noch mehr Wörtern die Lesbarkeit gefährdet ist, muss man auf jeden Fall Bindestric­he setzen. Dabei wird der erste Buchstabe großgeschr­ieben, der erste Buchstabe des Verbs am Ende, und steht dazwischen noch ein Substantiv, dann dieses natürlich auch. Zum Beispiel: das Nicht-loslassen-Können, das Auf-die-lange-Bank-Schieben, das Inden-Tag-hinein-Leben oder eben das Aus-der-Haut-Fahren. Das In-der-Haut-Drinbleibe­n wäre auch eine Lösung, aber dann platzt man irgendwann.

Wenn Sie Anregungen zu Sprachthem­en haben, schreiben Sie! Schwäbisch­e Zeitung, Kulturreda­ktion, Karlstraße 16, 88212 Ravensburg r.waldvogel@schwaebisc­he.de

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Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

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