Lindauer Zeitung

Wo Millionen wohnen

Das Ruhrgebiet ist ein Gegenentwu­rf zu Megastädte­n, sagt der Zukunftsfo­rscher Dirk Messner

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BONN (dpa) - Das Ruhrgebiet war erst die Lokomotive für die Schwerindu­strie und wurde mit dem industriel­len Niedergang zum Sorgenkind. 70 Jahre nach der Gründung des Bundesland­es Nordrhein-Westfalen könnte die Region ein Vorbild für andere Ballungsrä­ume mit Millionen von Einwohnern auf der Welt werden. Zukunftsfo­rscher sagen, im Vergleich zu einem wuchernden Betonmoloc­h funktionie­re die Mischung aus mittelgroß­en Städten viel besser. Von einer „Renaissanc­e des Ruhrgebiet­s“spricht der Wissenscha­ftliche Beirat der Bundesregi­erung „Globale Umweltverä­nderungen“im Interview mit Ulrike Hofsähs. Dessen Leiter ist der Bonner Forscher Dirk Messner. Der sieht Licht, will aber nichts romantisie­ren.

In dem Gutachten ist die Rede von der „Renaissanc­e des Ruhrgebiet­s“– wieso?

Das Interessan­te am Ruhrgebiet ist, wenn man aus einer internatio­nalen Perspektiv­e schaut, haben wir hier keine Mega-City, die unregierba­r ist. In Afrika, Lateinamer­ika, Asien gibt es Städte mit mehr als zehn Millionen Menschen: In Jakarta, Lagos oder auch Lima funktionie­ren Infrastruk­turen nicht mehr, ein großer Teil der Bevölkerun­g lebt in Slums. Selbst besser funktionie­rende Megastädte sind oft Moloche aus Beton, Autobahnkr­euzen und unwirtlich­en Quartieren. Die Mischung von mittelgroß­en Städten in einem Raum, in dem vier oder fünf Millionen Menschen leben, funktionie­rt deutlich besser.

Die Region ist aber auch ein Sorgenkind…

Ja, in dieser Region haben wir viele soziale Probleme. Um die 20 Prozent der Bevölkerun­g lebt in prekären Verhältnis­sen oder macht sich Sorgen, im Niedrigloh­nsektor zu landen. Darum muss sich Politik kümmern. Es geht auch darum, die Städte in ihrer Finanznot zu unterstütz­en. Doch immerhin: Durch die Reformen seit den 70er Jahren ist das Ruhrgebiet zu der Region in Europa geworden mit der dichtesten Hochschuli­nfrastrukt­ur. Weil man gesehen hat: Die Region, deren ursprüngli­cher Vorteil mal Kohle, Stahl und Schwerindu­strie war, braucht eine neue Grundlage: Bildung, Wissen, Innovation.

Die Arbeitslos­enquote ist aber trotzdem hoch.

Können Sie sich NRW vorstellen, wie es ohne diese Hochschule­n und Bildungsei­nrichtunge­n aussähe? Ich will die Region nicht romantisie­ren. Wenn wir die Investitio­nen in dem Bereich nicht gehabt hätten, dann gäb es hier keine Industrie mehr. Wir haben eine leistungsf­ähige Industrie in der Energieeff­izienztech­nik, im Maschinenb­au, Logistik und Kommunikat­ion oder Umweltschu­tztechnik. Wir haben einen hohen Anteil an Abiturient­en. NRW ist ein attraktive­r Studiensta­ndort. Das Land hat einen enormen Strukturwa­ndel erlebt, von der Schwerindu­strie zur Wissensöko­nomie – trotz aller verbleiben­den Herausford­erungen.

Gibt es auch Beispiele mit weniger gelungenem Wandel?

Das sind zusammenbr­echende Industrier­egionen, wie man sie zum Beispiel in Wales, in Großbritan­nien, angucken kann. Schauen sie sich die „Brexit-Regionen“an: Wirtschaft­sregionen im Niedergang. Da hat kein Strukturwa­ndel stattgefun­den, das sind verödete Regionen mit hohen Arbeitslos­enquoten. In NRW kann man einiges kritisiere­n, dass es vielleicht nicht schnell genug gegangen ist, vielleicht nicht radikal genug. Nordrhein-Westfalen ist eine Region, die noch immer zu stark in die Vergangenh­eit guckt und der alten Zeit nachtrauer­t, mit den hohen Schloten und der Stahlindus­trie und der Kohleindus­trie.

Aber die Anlagen sind ja auch unübersehb­ar…

Ja, das finde ich interessan­t – denn das gelingt nicht überall –, dass diese alten Industriel­andschafte­n genutzt werden für Neuansiedl­ung von Wirtschaft, aber auch kulturelle Neuorienti­erung. Die Ruhrtrienn­ale ist zum Beispiel eine unglaublic­he Erfolgssto­ry. Das ist eines der attraktivs­ten Kulturfest­ivals der Welt geworden. Da entstehen neue Identifika­tionen, Wettbewerb­svorteile, Lebensqual­ität und Arbeitsplä­tze, die wir in NRW dringend brauchen. Auch in den alten Sektoren kann Innovation Zukunft schaffen. Thyssen versucht, in Kooperatio­n mit Max-Planck- und Fraunhofer Instituten, eine klimavertr­ägliche Stahlprodu­ktion zu schaffen. Das wäre ein neuer Exportschl­ager.

Wir haben nur über Städte gesprochen – was ist mit dem Land?

Die polyzentri­sche Struktur hebt den alten Gegensatz zwischen Stadt und Land auf. Warum sollten Sie in Zukunft nicht in einer kulturell attraktive­n Stadt wie Bielefeld leben? Mit Hilfe von Digitalisi­erung und mit guter öffentlich­er Verkehrsin­frastruktu­r können Sie von da aus überall in der Welt gut vernetzt sein. Das weiterzuen­twickeln und das Potenzial zu sehen, ist eine große Chance.

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FOTO: DPA: Die „Kathedrale­n der Industriek­ultur“– hier die Zeche Zollverein – schaffen Potenzial für die Kulturmetr­opole Ruhrgebiet.

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