Lindauer Zeitung

Der NSU und der Fall Peggy

Ermittler stehen nach DNA-Fund vor einem Rätsel

- Von Michael Lehner

BERLIN/MÜNCHEN (dpa/sz) - Hängen die rechtsextr­emistische NSUTerrors­erie und der Tod der kleinen Peggy zusammen? Tötete einer der NSU-Mörder vor 15 Jahren auch die damals Neunjährig­e? Eine DNASpur des toten Terroriste­n Uwe Böhnhardt stellt eine Verbindung zwischen den beiden Komplexen her – und die Ermittler vor ein Rätsel.

Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU) drückte in einem Satz aus, was die Republik bewegt. „Dass jetzt der Verdacht besteht, dass einer der NSU-Terroriste­n auch noch der Mörder der kleinen Peggy sein könnte, ist unfassbar“, sagte der CDU-Politiker am Freitag. Auch der Präsident des Bundeskrim­inalamtes, Holger Münch, erklärte: „Der Fall NSU zeigt, dass nichts unmöglich ist.“Im Bundestag forderte Clemens Binninger (CDU), Vorsitzend­er des NSU-Untersuchu­ngsausschu­sses, „eine Generalrev­ision“der DNASpuren in Sachen NSU.

Der „Fall Peggy“ist ein Kindermord, so mysteriös wie kaum ein zweiter in der deutschen Kriminalge­schichte. Es gab eine Fehlverurt­eilung und immer neue Ermittlung­en. Und nun eine Zufallsspu­r, die zum NSU-Terroriste­n Uwe Böhnhardt weist. Zumindest geografisc­h könnte sie plausibel sein: Vom Fundort der Kinderleic­he zur Böhnhardt-Wohnung in Zwickau sind es keine 100 Kilometer.

Die damals neunjährig­e Peggy aus dem oberfränki­schen Städtchen Lichtenber­g im Landkreis Hof war am 7. Mai 2001 vom Schulweg nicht heimgekomm­en. Suchaktion­en blieben erfolglos. Es gab keine Leiche und auch keine weiteren Indizien, als das Landgerich­t Hof am 30. April 2004 den Gastwirtss­ohn Ulvi K. wegen Mordes zu lebenslang­er Haft verurteilt­e. Ein Geständnis, das der geistig behinderte junge Mann bald widerrufen hatte, war der einzige nennenswer­te Beweis in diesem Verfahren.

In Lichtenber­g war es seit dem Mord vorbei mit der Beschaulic­hkeit. Alte Geschichte­n kamen ans Licht. Etwa die lange zurücklieg­ende einschlägi­ge Vorstrafe eines hochbetagt­en Mannes, dem die Ermittler den Garten abgraben ließen. Namen von Verdächtig­en machten die Runde, Misstrauen machte sich breit.

Der Fall Ulvi

Als die Polizeiarb­eit sich schließlic­h auf Ulvi K. konzentrie­rte, ging ein Riss durch Lichtenber­g: Ein Teil der Bürger war erleichter­t. Der wohl größere Teil war empört und startete eine Bürgerakti­on, um den behinderte­n Mann, auf dem Entwicklun­gsstand eines Grundschül­ers, vor einem Fehlurteil zu schützen. Auch Peggys Vater und die Großeltern glaubten an seine Unschuld. Aber nicht die Staatsanwä­lte und die Richter. Der „Fall Peggy“wurde zum „Fall Ulvi“. Und es dauerte lange Jahre, bis die Unterstütz­er des Verurteilt­en erste Erfolge verbuchten: Im Juli 2012 gab der Hauptbelas­tungszeuge an Eides statt zu Protokoll, dass er im Mordprozes­s ein falsches Zeugnis abgegeben habe, weil ihm die Ermittler als Gegenleist­ung Hafterleic­hterungen in Aussicht gestellt hätten.

Der Mann saß zusammen mit Ulvi K. in der forensisch­en Abteilung des Bayreuther Bezirkskra­nkenhauses und hatte angegeben, dass sein Haftgenoss­e von der Tat erzählt habe. Den Antrag auf Wiederaufn­ahme des Verfahrens, den Ulvi K.s Anwalt nach diesem Widerruf stellte, kommentier­te der Leiter der Staatsanwa­ltschaft in Hof mit dem Satz, dass dies bei einem abgeschlos­senen Strafverfa­hren „schon vom Grundsatz her so gut wie unmöglich“sei. Möglich machte das vermeintli­ch Unmögliche schließlic­h das Landgerich­t Bayreuth und ordnete im Dezember 2013 die Wiederaufn­ahme an.

Am 14. Mai 2014 wurde Ulvi K. freigespro­chen, wenig später die Zwangsunte­rbringung in einer geschlosse­nen Einrichtun­g aufgehoben. Der Freigespro­chene zog in eine betreute Wohngemein­schaft.

Die Ermittlung­en, die trotz des Mordurteil­s nie so recht geendet hatten, standen mit dem Freispruch wieder am Anfang. 4800 Spuren hatte die Sonderkomm­ission Peggy abgearbeit­et. Früh in Verdacht geraten waren auch Männer aus Ostdeutsch­land. Im Fall eines Bekannten aus Halle, der Peggys Eltern mehrfach besuchte, verliefen die Spuren im Sande. Sogar ein Grab auf dem Lichtenber­ger Friedhof wurde ausgehoben, um den Verdacht zu klären, ob Peggys Leiche dort vor der Beerdigung einer Rentnerin verscharrt wurde. Alles vergeblich, auch die ausgelobte Belohnung von 30 000 Euro und mehrere FernsehFah­ndungen bei „XY ungelöst“brachten nichts ein.

Aber inzwischen haben die Ermittler zumindest die Gewissheit, dass sie nach einem Mörder (oder einer Mörderin) suchen. Am 2. Juli 2016, also nach 15 Jahren, hat ein Pilzsammle­r bei Nordhalben im SaaleOrla-Kreis die Reste einer Kinderleic­he gefunden. Es handelt sich zweifelsfr­ei um Peggy.

Mehrfach hatten Polizei-Hundertsch­aften nach dem Verschwind­en des Kindes auch diese Gegend durchsucht, auch mit Spürhunden. Noch ist nicht geklärt, wie lange das unvollstän­dige Skelett dort schon gelegen hat. Sicher ist nur, dass der Fundort nicht der Tatort ist.

Es bleiben noch Zweifel

Nun also dieser Sensations­fund von Kleidungsr­esten mit DNA-Spuren, die den Genen des Neonazi-Terroriste­n Uwe Böhnhardt gleichen. Gleich neben den Knochen des Mädchens. Aber trotz gewaltiger Medien-Aufregung und Vorurteile­n gibt es noch Zweifel. Denn da sind auch spektakulä­re Kriminalfä­lle, bei denen DNASpuren in die Irre führten.

Etwa nach dem Mord an einer Münchner Geschäftsf­rau, in deren Wohnung sich eine DNA-Spur fand, identisch mit jener an einer Schraube aus der Kiste, in der die zehnjährig­e Ursula Herrmann von einem Entführer lebendig vergraben wurde und schrecklic­h zu Tode kam. Am Ende gingen die Richter von einer Verwechslu­ng der Proben aus. Dies sei nicht ungewöhnli­ch.

Auch beim Heilbronne­r Mord an der Polizeibea­mtin Michèle Kiesewette­r gab es DNA-Verwirrung. Die Spur stammte in Wahrheit von einer Arbeiterin eines Betriebes, der Wattestäbc­hen herstellt, die zur Abnahme von DNA-Proben verwendet werden. Tatsächlic­h wurde die junge Polizistin – Ironie des Schicksals – von den NSU-Terroriste­n erschossen, behauptet die Staatsanwa­ltschaft.

Erste Meldungen, dass das Stoffstück vom Leichenfun­d im Fall Peggy ebenso wie die Leiche von Uwe Böhnhardt in der Jenaer Rechtsmedi­zin untersucht wurden und erst dort eine DNA-Übertragun­g stattgefun­den haben könnte, scheinen aber nicht zuzutreffe­n: Die Beweisstüc­ke vom Fundort des Kinderskel­etts wurden beim bayerische­n Landeskrim­inalamt in München untersucht.

Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow sieht zudem weitere Hinweise auf eine mögliche Beteiligun­g des NSU-Terroriste­n am Peggy-Mord: „Es gab einen Tod eines neunjährig­en Kindes in den 1990erJahr­en in Jena, und da war Herr Böhnhardt und sein Name schon einmal im Visier, und das müssen wir alles viel, viel gründliche­r betrachten.“Im ausgebrann­ten Wohnmobil, in dem sich Uwe Böhnhardt und sein NSU-Komplize Uwe Mundlos am 4. November 2011 töteten, fand sich Kinderspie­lzeug. Auf dem Computer in der Wohnung, in der sich die Männer mit Beate Zschäpe, der Hauptangek­lagten im Münchner NSU-Mordprozes­s, Tisch und Bett teilten, stellten Kripo-Spezialist­en Kinder-Pornos sicher. Der frühere Anführer vom „Thüringer Heimatschu­tz“, der als V-Mann des Verfassung­sschutzes die NSU-Leute ausspionie­rte, sitzt gerade eine Haftstrafe wegen Kindsmissb­rauchs ab. Und ein Anwalt der Nebenkläge­r im NSU-Prozess weiß von Neonazis, die ganz in der Nähe des Peggy-Fundorts eine Waldhütte besitzen.

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FOTOS: DPA Der Gedenkstei­n mit dem Porträt Peggys steht auf dem Friedhof in Nordhalben in Bayern.
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4. November 2011: In Eisenach (Thüringen) stehen Polizisten und Feuerwehrl­eute vor dem qualmenden Wohnmobil, in dem sich die mutmaßlich­en NSU-Terroriste­n Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos umgebracht hatten. In dem Fahrzeug wurde auch Kinderspie­lzeug...
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Der mutmaßlich­e NSU-Terrorist Uwe Böhnhardt.
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Ulvi K.

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