Der NSU und der Fall Peggy
Ermittler stehen nach DNA-Fund vor einem Rätsel
BERLIN/MÜNCHEN (dpa/sz) - Hängen die rechtsextremistische NSUTerrorserie und der Tod der kleinen Peggy zusammen? Tötete einer der NSU-Mörder vor 15 Jahren auch die damals Neunjährige? Eine DNASpur des toten Terroristen Uwe Böhnhardt stellt eine Verbindung zwischen den beiden Komplexen her – und die Ermittler vor ein Rätsel.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) drückte in einem Satz aus, was die Republik bewegt. „Dass jetzt der Verdacht besteht, dass einer der NSU-Terroristen auch noch der Mörder der kleinen Peggy sein könnte, ist unfassbar“, sagte der CDU-Politiker am Freitag. Auch der Präsident des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, erklärte: „Der Fall NSU zeigt, dass nichts unmöglich ist.“Im Bundestag forderte Clemens Binninger (CDU), Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses, „eine Generalrevision“der DNASpuren in Sachen NSU.
Der „Fall Peggy“ist ein Kindermord, so mysteriös wie kaum ein zweiter in der deutschen Kriminalgeschichte. Es gab eine Fehlverurteilung und immer neue Ermittlungen. Und nun eine Zufallsspur, die zum NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt weist. Zumindest geografisch könnte sie plausibel sein: Vom Fundort der Kinderleiche zur Böhnhardt-Wohnung in Zwickau sind es keine 100 Kilometer.
Die damals neunjährige Peggy aus dem oberfränkischen Städtchen Lichtenberg im Landkreis Hof war am 7. Mai 2001 vom Schulweg nicht heimgekommen. Suchaktionen blieben erfolglos. Es gab keine Leiche und auch keine weiteren Indizien, als das Landgericht Hof am 30. April 2004 den Gastwirtssohn Ulvi K. wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilte. Ein Geständnis, das der geistig behinderte junge Mann bald widerrufen hatte, war der einzige nennenswerte Beweis in diesem Verfahren.
In Lichtenberg war es seit dem Mord vorbei mit der Beschaulichkeit. Alte Geschichten kamen ans Licht. Etwa die lange zurückliegende einschlägige Vorstrafe eines hochbetagten Mannes, dem die Ermittler den Garten abgraben ließen. Namen von Verdächtigen machten die Runde, Misstrauen machte sich breit.
Der Fall Ulvi
Als die Polizeiarbeit sich schließlich auf Ulvi K. konzentrierte, ging ein Riss durch Lichtenberg: Ein Teil der Bürger war erleichtert. Der wohl größere Teil war empört und startete eine Bürgeraktion, um den behinderten Mann, auf dem Entwicklungsstand eines Grundschülers, vor einem Fehlurteil zu schützen. Auch Peggys Vater und die Großeltern glaubten an seine Unschuld. Aber nicht die Staatsanwälte und die Richter. Der „Fall Peggy“wurde zum „Fall Ulvi“. Und es dauerte lange Jahre, bis die Unterstützer des Verurteilten erste Erfolge verbuchten: Im Juli 2012 gab der Hauptbelastungszeuge an Eides statt zu Protokoll, dass er im Mordprozess ein falsches Zeugnis abgegeben habe, weil ihm die Ermittler als Gegenleistung Hafterleichterungen in Aussicht gestellt hätten.
Der Mann saß zusammen mit Ulvi K. in der forensischen Abteilung des Bayreuther Bezirkskrankenhauses und hatte angegeben, dass sein Haftgenosse von der Tat erzählt habe. Den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens, den Ulvi K.s Anwalt nach diesem Widerruf stellte, kommentierte der Leiter der Staatsanwaltschaft in Hof mit dem Satz, dass dies bei einem abgeschlossenen Strafverfahren „schon vom Grundsatz her so gut wie unmöglich“sei. Möglich machte das vermeintlich Unmögliche schließlich das Landgericht Bayreuth und ordnete im Dezember 2013 die Wiederaufnahme an.
Am 14. Mai 2014 wurde Ulvi K. freigesprochen, wenig später die Zwangsunterbringung in einer geschlossenen Einrichtung aufgehoben. Der Freigesprochene zog in eine betreute Wohngemeinschaft.
Die Ermittlungen, die trotz des Mordurteils nie so recht geendet hatten, standen mit dem Freispruch wieder am Anfang. 4800 Spuren hatte die Sonderkommission Peggy abgearbeitet. Früh in Verdacht geraten waren auch Männer aus Ostdeutschland. Im Fall eines Bekannten aus Halle, der Peggys Eltern mehrfach besuchte, verliefen die Spuren im Sande. Sogar ein Grab auf dem Lichtenberger Friedhof wurde ausgehoben, um den Verdacht zu klären, ob Peggys Leiche dort vor der Beerdigung einer Rentnerin verscharrt wurde. Alles vergeblich, auch die ausgelobte Belohnung von 30 000 Euro und mehrere FernsehFahndungen bei „XY ungelöst“brachten nichts ein.
Aber inzwischen haben die Ermittler zumindest die Gewissheit, dass sie nach einem Mörder (oder einer Mörderin) suchen. Am 2. Juli 2016, also nach 15 Jahren, hat ein Pilzsammler bei Nordhalben im SaaleOrla-Kreis die Reste einer Kinderleiche gefunden. Es handelt sich zweifelsfrei um Peggy.
Mehrfach hatten Polizei-Hundertschaften nach dem Verschwinden des Kindes auch diese Gegend durchsucht, auch mit Spürhunden. Noch ist nicht geklärt, wie lange das unvollständige Skelett dort schon gelegen hat. Sicher ist nur, dass der Fundort nicht der Tatort ist.
Es bleiben noch Zweifel
Nun also dieser Sensationsfund von Kleidungsresten mit DNA-Spuren, die den Genen des Neonazi-Terroristen Uwe Böhnhardt gleichen. Gleich neben den Knochen des Mädchens. Aber trotz gewaltiger Medien-Aufregung und Vorurteilen gibt es noch Zweifel. Denn da sind auch spektakuläre Kriminalfälle, bei denen DNASpuren in die Irre führten.
Etwa nach dem Mord an einer Münchner Geschäftsfrau, in deren Wohnung sich eine DNA-Spur fand, identisch mit jener an einer Schraube aus der Kiste, in der die zehnjährige Ursula Herrmann von einem Entführer lebendig vergraben wurde und schrecklich zu Tode kam. Am Ende gingen die Richter von einer Verwechslung der Proben aus. Dies sei nicht ungewöhnlich.
Auch beim Heilbronner Mord an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter gab es DNA-Verwirrung. Die Spur stammte in Wahrheit von einer Arbeiterin eines Betriebes, der Wattestäbchen herstellt, die zur Abnahme von DNA-Proben verwendet werden. Tatsächlich wurde die junge Polizistin – Ironie des Schicksals – von den NSU-Terroristen erschossen, behauptet die Staatsanwaltschaft.
Erste Meldungen, dass das Stoffstück vom Leichenfund im Fall Peggy ebenso wie die Leiche von Uwe Böhnhardt in der Jenaer Rechtsmedizin untersucht wurden und erst dort eine DNA-Übertragung stattgefunden haben könnte, scheinen aber nicht zuzutreffen: Die Beweisstücke vom Fundort des Kinderskeletts wurden beim bayerischen Landeskriminalamt in München untersucht.
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow sieht zudem weitere Hinweise auf eine mögliche Beteiligung des NSU-Terroristen am Peggy-Mord: „Es gab einen Tod eines neunjährigen Kindes in den 1990erJahren in Jena, und da war Herr Böhnhardt und sein Name schon einmal im Visier, und das müssen wir alles viel, viel gründlicher betrachten.“Im ausgebrannten Wohnmobil, in dem sich Uwe Böhnhardt und sein NSU-Komplize Uwe Mundlos am 4. November 2011 töteten, fand sich Kinderspielzeug. Auf dem Computer in der Wohnung, in der sich die Männer mit Beate Zschäpe, der Hauptangeklagten im Münchner NSU-Mordprozess, Tisch und Bett teilten, stellten Kripo-Spezialisten Kinder-Pornos sicher. Der frühere Anführer vom „Thüringer Heimatschutz“, der als V-Mann des Verfassungsschutzes die NSU-Leute ausspionierte, sitzt gerade eine Haftstrafe wegen Kindsmissbrauchs ab. Und ein Anwalt der Nebenkläger im NSU-Prozess weiß von Neonazis, die ganz in der Nähe des Peggy-Fundorts eine Waldhütte besitzen.