„Die Mitte muss das feine Schweigen brechen“
Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor über die Auswirkungen des offenen Fremdenhasses auf die Gesellschaft
RAVENSBURG - Die durch die steigende Migration befeuerten Ängste vieler Menschen vor einer „Überfremdung“in Deutschland gefährden die Demokratie und führen zu einer Spaltung der Gesellschaft. Die bürgerliche Mitte muss gegen Rassismus und Radikalisierung aktiv Position beziehen, fordert die Religionspädagogin Lamya Kaddor im Gespräch mit Alexei Makartsev.
Nach der Veröffentlichung Ihres Buchs „Die Zerreissprobe“schlugen Ihnen Anfeindungen entgegen. Wie geht es Ihnen jetzt?
Nicht gut. Ich kann nicht länger meine Schüler unterrichten und musste die Sicherheitsinstanzen einschalten, um halbwegs normal leben zu können. Vorerst habe ich mich bis zum Ende des Schuljahres beurlauben lassen.
War diese heftige Reaktion auf Ihr Buch, in dem Sie den Fremdenhass bloßstellen, überraschend?
Ja, ich habe nicht damit gerechnet, dass mich manche Deutsche deshalb gerne tot sähen. Und ich habe bereits Erfahrung mit Bedrohungen. Bisher gingen diese aber überwiegend von Islamisten aus. Selbstverständlich habe ich „Irritationen“bei einigen erwartet, ich kritisiere ja auch bestimmte Leute in Deutschland. Aber die extreme Härte der Angriffe habe ich nicht vorhergesehen: Ich solle vergewaltigt, vergast, erschossen werden. Was mir auch zu denken gibt, dass diese massive Schmutzund Verleumdungskampagne von Intellektuellen mit vermeintlich „kritischen“Texten noch befeuert wird. Da wird alles in Zweifel gezogen, was ich jemals gemacht habe. Und es gibt Leute, die glauben das. Manche Menschen begreifen die Meinungsfreiheit inzwischen so, dass sie jetzt alles sagen und publizieren dürften. Nur – auf Worte folgen oft Taten.
Werden Sie hauptsächlich im Internet angegriffen?
Es gibt unterschiedliche Wege. Aber das meiste kommt übers Netz, ja. Mitunter über Server, die im Ausland stehen. Dann heißt es bei der Polizei, die können wir leider nicht ausfindig machen. Ich weigere mich aber inzwischen, das im 21. Jahrhundert einfach so hinzunehmen.
Warum haben viele Menschen heute ein Problem mit Migranten?
Man muss da unterscheiden: Es gibt welche, die wirklich Berührungsängste haben, die eine „Überfrem- dung“fürchten. Aus meiner Sicht muss man solche Ängste ernst nehmen. Aber diese Menschen müssen auch verstehen, dass es andere Wege gibt, sich mit ihren Ängsten auseinanderzusetzen, als sich extremen oder populistischen Gruppen anzuschließen. Ich würde zum Beispiel direkte Kontakte empfehlen. Einen kleinen Teil der Gesellschaft nenne ich „Deutschomanen“. Man kann sie nicht zu den Rechtsextremisten zählen – sie definieren sich aber auch durch extrem „völkisches“Denken und leben zum Beispiel in dem „Wahn“, dass sich heute alle anpassen müssen, nur die Deutschen nicht.
Laut Bundeskanzlerin Merkel leben wir in „postfaktischen Zeiten“. Wie kommen wir an die Pegida- Anhänger heran, die sich nicht durch rationale Argumente überzeugen lassen?
Wenn jemand das Gesetz verletzt, muss er bestraft werden. Anderen Menschen muss man klarmachen, dass sie in einem Rechtsstaat leben und ihnen aufzeigen, wo dessen Grenzen sind. Wichtig sind auch Schulprojekte: Wir müssen vor allem das Demokratieverständnis bei Jugendlichen fördern und trainieren.
Wie verändert Fremdenhass unsere Gesellschaft?
Er spaltet sie. Die Trennlinie verläuft nicht zwischen Religionen oder zwischen Migranten und Nicht-Migranten. Sie verläuft zwischen jenen, die eine offene Gesellschaft und einen demokratischen Rechtsstaat wollen, und einer Minderheit, die das ablehnt. Das Problem ist, dass diese zweite Gruppe eine kritische Größe erreicht hat und dank des Internets übermäßig laut ist. Das führt dazu, dass viele Menschen mittlerweile meinen, sie könnten offen aussprechen, was sie früher nie gewagt hätten. Teile der Gesellschaft sind völlig enthemmt und radikalisiert. Das hat Auswirkungen auf den Rest der Gesellschaft. Vor allem die bürgerlichen Mitte muss daher das „feine Schweigen“brechen und dagegenhalten – eben auch wenn es schmutzig wird.
Als Konsequenz auf die Welle der Fremdenfeindlichkeit ist Deutschland dabei, sich von der Willkommenskultur zu verabschieden…
Was falsch ist. Diese Entwicklung ist bitter, wir sehen uns doch eigentlich
als eine aufgeklärte Gesellschaft und lassen uns trotzdem von einer Minderheit treiben, von Menschen, denen die Menschlichkeit fehlt.
Warum ist bislang die Stimme der muslimischen Gemeinde so leise in der Debatte um Einwanderung?
Ich finde auch, dass sich die muslimischen Verbände in ihrer Rolle als Gesprächspartner noch aktiver einbringen sollten. Wobei viele Moscheen das bereits tun, es wird nur seltener darüber berichtet.
Wie wird es bei Ihnen persönlich weitergehen?
Es geht mir darum, die Gesellschaft zusammenzubringen, und die Radikalen auf allen Seiten abzukanzeln. Darum möchte ich mich nicht aus der Öffentlichkeit zurückziehen.