Die Welt ist kalt und leer
Kunsthalle Weishaupt in Ulm zeigt Malerei aus fünf Jahrzehnten von Ben Willikens
ULM - Ben Willikens gehört unter den zeitgenössischen Malern zu den Außenseitern, die konsequent einen eigenen Weg verfolgt haben. Thema im Werk des 77-jährigen namhaften Künstlers sind Räume und Interieurs, deren kühle Atmosphäre einen oft frösteln lässt. Kunstsammler Siegfried Weishaupt besitzt zahlreiche Bilder von Willikens und ist ihm seit vielen Jahren freundschaftlich verbunden. Anlass genug für eine Retrospektive in der eigenen Kunsthalle in Ulm, die unter dem Titel „Die Anmaßung der Räume und Orte“ab Sonntag Malerei aus fünf Jahrzehnten zeigt.
Götz Adriani als Kurator
Da steht er, der Künstler, in schwarzem Anzug, mit wallendem Haar und beringten Händen vor einem seiner Hauptwerke und erzählt und erzählt. Das Gemälde zeigt einen menschenleeren Saal und ist ganz in Grautönen gehalten. Im Vordergrund befindet sich eine lange, mit einem weißen Tuchtuch bedeckte Tafel auf seltsamen Füßen, die von Krankenhausbetten stammen könnten. Links und rechts sind jeweils vier Stahltüren zu sehen. Ein gleißendes Licht aus Türund Fensterdurchlässen im Hintergrund erleuchtet schlaglichtartig die Szenerie. Das drei auf sechs Meter große „Abendmahl“(2009) ist Teil einer berühmten Serie von Ben Willikens, in der er sich ab 1976 intensiv mit Leonardo da Vincis „Abendmahl“in Santa Maria delle Grazie in Mailand auseinandergesetzt hat. Das monumentale Bild aus der Sammlung Weishaupt hängt jetzt in der Kunsthalle an der Stirnwand im großen Saal und bildet den Höhepunkt der retrospektiv angelegten Schau.
Als Kurator wurde diesmal Götz Adriani ins Haus geholt. Der Ausstellungsmacher, der früher mit seinen Präsentationen Menschenmassen in die Tübinger Kunsthalle lockte, hatte dort bereits 1975 Arbeiten von Willikens gezeigt – also zu einer Zeit, als der in Stuttgart lebende Maler noch als Geheimtipp gehandelt wurde. Für die zwei Etagen in Ulm hat Adriani jetzt rund 80 Werke ausgewählt. Nur ein kleiner Teil stammt aus der Sammlung Weishaupt und wird stimmig mit Exponaten aus dem Besitz des Künstlers und zahlreicher weiterer Leihgeber ergänzt. Das heißt: Der Besucher hat am Ende des Rundgangs die wichtigsten Serien des Künstlers anhand von mehreren Beispielen kennengelernt.
Los geht es im Foyer mit einem Entwurf zum „Leipziger Firmament“, jenem gigantischen Deckengemälde für das Kunstmuseum Leipzig, das vor zwei Jahren für Furore sorgte. Das nötige Geld zur Finanzierung hatte Siegfried Weishaupt beigesteuert.
Spiel mit der Wahrnehmung
Dann folgt ein Sprung zurück in die 1970er-Jahre, in denen Willikens beklemmende Einsichten in sterile Krankenhaussäle und -Flure gibt. Diese Anstaltsbilder, die in Anlehnung an die Pop Art entstanden, sind kalt und bedrückend. Sie erzählen von der Verletzbarkeit des Menschen. Verstärkt wird diese Stimmung durch die Technik der Grisaille, der Graumalerei, die der Künstler in dieser Zeit für sich entdeckt. Die Motive hängen eng mit Willikens persönlichen Erfahrungen bei einem Sanatoriumsaufenthalt im Jahr 1969 zusammen – die offensichtlich traumatisch waren. Eine Rarität sind hier die riesigen Bleifstiftzeichnungen kombiniert mit Acrylfarbe, etwa von einer Badewanne, die „kein Ort ist, wo man sich zu Hause fühlt“, wie der Maler treffend sagt.
Aber auch sonst fühlt sich der Betrachter in Willikens Welten alles andere als wohl. Denn seine zentralperspektivisch angelegten Räume sind ad absurdum geführt, indem er sie radikal entleert beziehungsweise allenfalls mit requisitenartigen Gegenständen belebt. Zudem bleibt seine Farbpalette lange Zeit zwischen Schwarz und Weiß mit sämtlichen Schattierungen. Typisch hierfür sind hier seine „Gegenräume“der 1980erJahre mit bühnenhaftem Charakter. Auch die Serie der „Orte“aus den 1990er-Jahren – in Ulm mit eindrücklichen Beispielen vertreten – gehört dazu. Hier hat sich der Künstler mit der Wahnsinnsarchitektur des Nationalsozialismus in Nürnberg und anderswo auseinandergesetzt. „Ich war früher ein zorniger Mann“, sagt Willikens, der 1943 die Bombardierung seiner Heimatstadt Leipzig miterleben musste.
Farben kommen nur gelegentlich in seinen Serien ins Spiel. Ein Ausbruch aus den fast virtuellen Welten sind erst die „Floß“-Bilder aus der jüngsten Zeit. Hier kombiniert Willikens erstmals Fotoprints aus der Umbauphase seines Ateliers mit Malerei – eines von 2016 in Blau-, Gelbund Rottönen hängt ganz am Ende der Schau und bildet einen tollen Kontrast zum grauen „Abendmahl“.
Aber der 77-jährige Maler ist nicht so leicht zu fassen. Denn gleichzeitig greift er mit seinen neuen „Chromatischen Reihen“zurück auf alte Anstaltsmotive. Willikens selbst betrachtet diese Gemälde als „Hymne über das Wunder der Wahrnehmung“, denn von Bild zu Bild wird die Leinwand immer zwei Töne dunkler.
Apropos Wahrnehmung. Das einzige Zugeständnis, das Ausstellungsmacher Adriani an eine zeitgemäße Präsentation macht, sind Zitate des Künstlers an den Fensterscheiben der Skulpturenterrasse im Obergeschoss sowie ein Lebenslauf an der Wand gegenüber. Dabei hätte Ben Willikens dem Besucher viel zu erzählen gehabt – eine Videostation mit O-Tönen über Kopfhörer wäre ideal gewesen. Schade drum.