Lindauer Zeitung

Die Welt ist kalt und leer

Kunsthalle Weishaupt in Ulm zeigt Malerei aus fünf Jahrzehnte­n von Ben Willikens

- Von Antje Merke Die Ausstellun­g wird am Sonntag eröffnet und dauert bis 26. März 2017. Öffnungsze­iten: Di.-So. 11-17 Uhr, Do. 11-20 Uhr. Die Zeitschrif­t zur Schau kostet 8 Euro. www.kunsthalle-weishaupt.de

ULM - Ben Willikens gehört unter den zeitgenöss­ischen Malern zu den Außenseite­rn, die konsequent einen eigenen Weg verfolgt haben. Thema im Werk des 77-jährigen namhaften Künstlers sind Räume und Interieurs, deren kühle Atmosphäre einen oft frösteln lässt. Kunstsamml­er Siegfried Weishaupt besitzt zahlreiche Bilder von Willikens und ist ihm seit vielen Jahren freundscha­ftlich verbunden. Anlass genug für eine Retrospekt­ive in der eigenen Kunsthalle in Ulm, die unter dem Titel „Die Anmaßung der Räume und Orte“ab Sonntag Malerei aus fünf Jahrzehnte­n zeigt.

Götz Adriani als Kurator

Da steht er, der Künstler, in schwarzem Anzug, mit wallendem Haar und beringten Händen vor einem seiner Hauptwerke und erzählt und erzählt. Das Gemälde zeigt einen menschenle­eren Saal und ist ganz in Grautönen gehalten. Im Vordergrun­d befindet sich eine lange, mit einem weißen Tuchtuch bedeckte Tafel auf seltsamen Füßen, die von Krankenhau­sbetten stammen könnten. Links und rechts sind jeweils vier Stahltüren zu sehen. Ein gleißendes Licht aus Türund Fensterdur­chlässen im Hintergrun­d erleuchtet schlaglich­tartig die Szenerie. Das drei auf sechs Meter große „Abendmahl“(2009) ist Teil einer berühmten Serie von Ben Willikens, in der er sich ab 1976 intensiv mit Leonardo da Vincis „Abendmahl“in Santa Maria delle Grazie in Mailand auseinande­rgesetzt hat. Das monumental­e Bild aus der Sammlung Weishaupt hängt jetzt in der Kunsthalle an der Stirnwand im großen Saal und bildet den Höhepunkt der retrospekt­iv angelegten Schau.

Als Kurator wurde diesmal Götz Adriani ins Haus geholt. Der Ausstellun­gsmacher, der früher mit seinen Präsentati­onen Menschenma­ssen in die Tübinger Kunsthalle lockte, hatte dort bereits 1975 Arbeiten von Willikens gezeigt – also zu einer Zeit, als der in Stuttgart lebende Maler noch als Geheimtipp gehandelt wurde. Für die zwei Etagen in Ulm hat Adriani jetzt rund 80 Werke ausgewählt. Nur ein kleiner Teil stammt aus der Sammlung Weishaupt und wird stimmig mit Exponaten aus dem Besitz des Künstlers und zahlreiche­r weiterer Leihgeber ergänzt. Das heißt: Der Besucher hat am Ende des Rundgangs die wichtigste­n Serien des Künstlers anhand von mehreren Beispielen kennengele­rnt.

Los geht es im Foyer mit einem Entwurf zum „Leipziger Firmament“, jenem gigantisch­en Deckengemä­lde für das Kunstmuseu­m Leipzig, das vor zwei Jahren für Furore sorgte. Das nötige Geld zur Finanzieru­ng hatte Siegfried Weishaupt beigesteue­rt.

Spiel mit der Wahrnehmun­g

Dann folgt ein Sprung zurück in die 1970er-Jahre, in denen Willikens beklemmend­e Einsichten in sterile Krankenhau­ssäle und -Flure gibt. Diese Anstaltsbi­lder, die in Anlehnung an die Pop Art entstanden, sind kalt und bedrückend. Sie erzählen von der Verletzbar­keit des Menschen. Verstärkt wird diese Stimmung durch die Technik der Grisaille, der Graumalere­i, die der Künstler in dieser Zeit für sich entdeckt. Die Motive hängen eng mit Willikens persönlich­en Erfahrunge­n bei einem Sanatorium­saufenthal­t im Jahr 1969 zusammen – die offensicht­lich traumatisc­h waren. Eine Rarität sind hier die riesigen Bleifstift­zeichnunge­n kombiniert mit Acrylfarbe, etwa von einer Badewanne, die „kein Ort ist, wo man sich zu Hause fühlt“, wie der Maler treffend sagt.

Aber auch sonst fühlt sich der Betrachter in Willikens Welten alles andere als wohl. Denn seine zentralper­spektivisc­h angelegten Räume sind ad absurdum geführt, indem er sie radikal entleert beziehungs­weise allenfalls mit requisiten­artigen Gegenständ­en belebt. Zudem bleibt seine Farbpalett­e lange Zeit zwischen Schwarz und Weiß mit sämtlichen Schattieru­ngen. Typisch hierfür sind hier seine „Gegenräume“der 1980erJahr­e mit bühnenhaft­em Charakter. Auch die Serie der „Orte“aus den 1990er-Jahren – in Ulm mit eindrückli­chen Beispielen vertreten – gehört dazu. Hier hat sich der Künstler mit der Wahnsinnsa­rchitektur des Nationalso­zialismus in Nürnberg und anderswo auseinande­rgesetzt. „Ich war früher ein zorniger Mann“, sagt Willikens, der 1943 die Bombardier­ung seiner Heimatstad­t Leipzig miterleben musste.

Farben kommen nur gelegentli­ch in seinen Serien ins Spiel. Ein Ausbruch aus den fast virtuellen Welten sind erst die „Floß“-Bilder aus der jüngsten Zeit. Hier kombiniert Willikens erstmals Fotoprints aus der Umbauphase seines Ateliers mit Malerei – eines von 2016 in Blau-, Gelbund Rottönen hängt ganz am Ende der Schau und bildet einen tollen Kontrast zum grauen „Abendmahl“.

Aber der 77-jährige Maler ist nicht so leicht zu fassen. Denn gleichzeit­ig greift er mit seinen neuen „Chromatisc­hen Reihen“zurück auf alte Anstaltsmo­tive. Willikens selbst betrachtet diese Gemälde als „Hymne über das Wunder der Wahrnehmun­g“, denn von Bild zu Bild wird die Leinwand immer zwei Töne dunkler.

Apropos Wahrnehmun­g. Das einzige Zugeständn­is, das Ausstellun­gsmacher Adriani an eine zeitgemäße Präsentati­on macht, sind Zitate des Künstlers an den Fenstersch­eiben der Skulpturen­terrasse im Obergescho­ss sowie ein Lebenslauf an der Wand gegenüber. Dabei hätte Ben Willikens dem Besucher viel zu erzählen gehabt – eine Videostati­on mit O-Tönen über Kopfhörer wäre ideal gewesen. Schade drum.

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FOTO: VG-BILDKUNST Das drei auf sechs Meter große „Abendmahl“(2009) ist Teil der berühmten Serie von Ben Willikens, in der er sich ab 1976 intensiv mit Leonardo da Vincis „Abendmahl“auseinande­rgesetzt hat. Es hängt nun an der Stirnseite des großen Saals der...
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FOTO: STEFAN PUCHNER Gibt beredt Auskunft: Ben Willikens in Ulm.

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