Lindauer Zeitung

Als Lindau ein „Welthandel­szentrum“war

Historiker Magnus Ressel stellt seine neuesten Erkenntnis­se über den „Lindauer Boten“vor

- Von Isabel Kubeth de Placido

LINDAU (isa) - Der „Lindauer Bote“hat weitaus mehr Bedeutung als bisher gedacht. Galt das von etwa 1500 bis 1824 zwischen Lindau und Mailand verkehrend­e Botensyste­m bislang lediglich als Transportm­ittel von Briefen, Waren und Reisenden, so hat Magnus Ressel zahlreiche Besucher im gut besuchten Gewölbesaa­l eines Besseren belehrt: Demnach hat der „Lindauer Bote“die Stadt im Verlauf des 18. Jahrhunder­ts zum Welthandel­szentrum gemacht.

In seinem Vortrag „Der Lindauer Bote als deutsch-italienisc­hes Gemeinscha­ftsunterne­hmen“stellte der Historiker seine neuesten wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se vor. Demnach war der Lindauer Bote, den drei Lindauer Kaufmannsf­amilien getragen haben, Voraussetz­ung für die Ansiedlung der Textilindu­strie in Süddeutsch­land, Vorarlberg und Norditalie­n im 19. Jahrhunder­t.

Ressels Erkenntnis­se über den „Lindauer Boten“sind nur ein Nebenprodu­kt seiner Forschunge­n. Denn eigentlich arbeitet der promoviert­e Wissenscha­ftsassiste­nt an der Goethe-Universitä­t Frankfurt an seiner Habilitati­on über das Netzwerk deutscher Kaufleute in Italien im 18. Jahrhunder­t. Doch dabei stolperte Ressel immer wieder über den Lindauer Boten und erkannte schließlic­h, dass dieses Transports­ystem bislang völlig unterschät­zt war. Dies vor allem deshalb, weil vor ihm kaum jemand die reichen Bestände an Dokumenten im Staatsarch­iv Mailand gesichtet und ausgewerte­t hat. Kein Wunder, dass der Referent Heiner Stauders Begrüßung beim Historisch­en Verein und damit „in der schwäbisch­en Provinz“deshalb mit den Worten beantworte­te: „Lindau ist nicht schwäbisch­e Provinz. Für mich als Historiker ist Lindau die Hauptschla­gader des deutsch-italienisc­hen Verkehrs.“ Magnus Ressel

Der Lindauer Bote war ein Handelszug in Europa

Das ist keineswegs übertriebe­n, wie Ressel zeigte. Denn das Transports­ystem, das voraussich­tlich schon früher, aber nachweisli­ch ab 1592 und ab 1774 offiziell, weil mit einem Privileg ausgestatt­et, regelmäßig zwischen Lindau und Mailand verkehrte, war im Grunde genommen ein Transitsys­tem. Dessen End- und Anfangspun­kte waren weder Lindau noch Mailand, sondern es zielte auf Genua und Amsterdam ab. „Genua war der Ausfuhrhaf­en Lindaus“, sagte Ressel und schloss: „Der Lindauer Bote war ein Handelszug zwischen Nord- und Südeuropa.“

Ist die Wissenscha­ft bislang davon ausgegange­n, dass es neben Waren und Reisenden vor allem Briefe waren, die der Lindauer Bote jeden Montag vom Lindauer Gasthaus „Krone“aus auf Pferden, später auch mit Kutschen, bei ihrer siebentägi­gen Reise über Fußach, Feldkirch, Liechtenst­ein, Splügen, Chiavenna, Como bis in die Mailländer Gaststätte „Tre Re“transporti­erte und am Mittwoch der darauffolg­enden Woche wieder zurück, so widerlegte Ressel das. Er wies nach, dass der Brieftrans­port nicht mal die Hälfte der Gesamteinn­ahmen des Botensyste­ms ausmachte und das noch vor 1730 und damit noch dem Boom der italienisc­hen Seidenindu­strie. „Die Haupteinna­hmen generierte der Botenlauf durch die Transportl­eistung“, sagte Ressel und erklärte: „Faktisch war der Lindauer Bote ein äußerst leistungsf­ähiges Transportu­nternehmen.“Und zwar insbesonde­re von Seide aus Italien und Leinen aus Deutschlan­d.

„Lindau ist nicht schwäbisch­e Provinz. Für mich als Historiker ist Lindau die Hauptschla­gader des deutsch-italienisc­hen Verkehrs.“

Im 18. und 19. Jahrhunder­t wurde aus dem Boten eine Spedition

Für ein solches Speditions­unternehme­n im 18. Jahrhunder­t spricht auch die Tatsache, dass der Lindauer Bote weitgehend von Lindauer Kaufleuten organisier­t und bezahlt wurde. Zwar waren die immer aus Fußach stammenden Boten offiziell der Handelskam­mer Mailand unterstell­t. Tatsächlic­h jedoch, so erklärte Ressel „lag der effektive Betrieb voll in den Händen der Lindauer Kaufleute.“Vornehmlic­h der drei reichsten.

Im Verlauf des 18. Jahrhunder­ts gewann der Speditions­charakter des Lindauer Boten immer mehr an Bedeutung. Denn in Norditalie­n kam es zu einem explosions­artigen Wachstum des Seidengewe­rbes, und immer größere Mengen des kostbaren Stoffes mussten gen Norden transporti­ert werden. „Der Lindauer Bote passte sich dieser Struktur an und wurde sukzessive zum Hauptkanal des Textilhand­els zwischen Norditalie­n und Süddeutsch­land“, sagte der Referent und erklärte, dass es der Leistungsf­ähigkeit des Boten zu verdanken war, dass Lindau und Mailand zu zentralen Handelszen­tren aufstiegen, wodurch sie wiederum immer mehr Güter aus immer ferneren Gegenden zu sich lockten. Den Transport konnte der Bote jedoch keinesfall­s allein bewerkstel­ligen. Ressel: „Der Bote hatte neben sich einen Pulk von Transporte­uren.“

Der Historiker kommt zu dem Schluss: „Mit dem Lindauer Boten war Lindau ein Welthandel­szentrum. Ohne denselben wäre die Stadt bedeutungs­los gewesen.“Seine eigentlich­e Leistung sah Ressel jedoch darin, dass der Lindauer Bote es war, der den Weg für die Textilindu­strie in Süddeutsch­land, Vorarlberg und Mailand geebnet hat.

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FOTO: ISA Ganz neue Erkenntnis­se über den Lindauer Boten stellt der Historiker Magnus Ressel vor.

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