Als Lindau ein „Welthandelszentrum“war
Historiker Magnus Ressel stellt seine neuesten Erkenntnisse über den „Lindauer Boten“vor
LINDAU (isa) - Der „Lindauer Bote“hat weitaus mehr Bedeutung als bisher gedacht. Galt das von etwa 1500 bis 1824 zwischen Lindau und Mailand verkehrende Botensystem bislang lediglich als Transportmittel von Briefen, Waren und Reisenden, so hat Magnus Ressel zahlreiche Besucher im gut besuchten Gewölbesaal eines Besseren belehrt: Demnach hat der „Lindauer Bote“die Stadt im Verlauf des 18. Jahrhunderts zum Welthandelszentrum gemacht.
In seinem Vortrag „Der Lindauer Bote als deutsch-italienisches Gemeinschaftsunternehmen“stellte der Historiker seine neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse vor. Demnach war der Lindauer Bote, den drei Lindauer Kaufmannsfamilien getragen haben, Voraussetzung für die Ansiedlung der Textilindustrie in Süddeutschland, Vorarlberg und Norditalien im 19. Jahrhundert.
Ressels Erkenntnisse über den „Lindauer Boten“sind nur ein Nebenprodukt seiner Forschungen. Denn eigentlich arbeitet der promovierte Wissenschaftsassistent an der Goethe-Universität Frankfurt an seiner Habilitation über das Netzwerk deutscher Kaufleute in Italien im 18. Jahrhundert. Doch dabei stolperte Ressel immer wieder über den Lindauer Boten und erkannte schließlich, dass dieses Transportsystem bislang völlig unterschätzt war. Dies vor allem deshalb, weil vor ihm kaum jemand die reichen Bestände an Dokumenten im Staatsarchiv Mailand gesichtet und ausgewertet hat. Kein Wunder, dass der Referent Heiner Stauders Begrüßung beim Historischen Verein und damit „in der schwäbischen Provinz“deshalb mit den Worten beantwortete: „Lindau ist nicht schwäbische Provinz. Für mich als Historiker ist Lindau die Hauptschlagader des deutsch-italienischen Verkehrs.“ Magnus Ressel
Der Lindauer Bote war ein Handelszug in Europa
Das ist keineswegs übertrieben, wie Ressel zeigte. Denn das Transportsystem, das voraussichtlich schon früher, aber nachweislich ab 1592 und ab 1774 offiziell, weil mit einem Privileg ausgestattet, regelmäßig zwischen Lindau und Mailand verkehrte, war im Grunde genommen ein Transitsystem. Dessen End- und Anfangspunkte waren weder Lindau noch Mailand, sondern es zielte auf Genua und Amsterdam ab. „Genua war der Ausfuhrhafen Lindaus“, sagte Ressel und schloss: „Der Lindauer Bote war ein Handelszug zwischen Nord- und Südeuropa.“
Ist die Wissenschaft bislang davon ausgegangen, dass es neben Waren und Reisenden vor allem Briefe waren, die der Lindauer Bote jeden Montag vom Lindauer Gasthaus „Krone“aus auf Pferden, später auch mit Kutschen, bei ihrer siebentägigen Reise über Fußach, Feldkirch, Liechtenstein, Splügen, Chiavenna, Como bis in die Mailländer Gaststätte „Tre Re“transportierte und am Mittwoch der darauffolgenden Woche wieder zurück, so widerlegte Ressel das. Er wies nach, dass der Brieftransport nicht mal die Hälfte der Gesamteinnahmen des Botensystems ausmachte und das noch vor 1730 und damit noch dem Boom der italienischen Seidenindustrie. „Die Haupteinnahmen generierte der Botenlauf durch die Transportleistung“, sagte Ressel und erklärte: „Faktisch war der Lindauer Bote ein äußerst leistungsfähiges Transportunternehmen.“Und zwar insbesondere von Seide aus Italien und Leinen aus Deutschland.
„Lindau ist nicht schwäbische Provinz. Für mich als Historiker ist Lindau die Hauptschlagader des deutsch-italienischen Verkehrs.“
Im 18. und 19. Jahrhundert wurde aus dem Boten eine Spedition
Für ein solches Speditionsunternehmen im 18. Jahrhundert spricht auch die Tatsache, dass der Lindauer Bote weitgehend von Lindauer Kaufleuten organisiert und bezahlt wurde. Zwar waren die immer aus Fußach stammenden Boten offiziell der Handelskammer Mailand unterstellt. Tatsächlich jedoch, so erklärte Ressel „lag der effektive Betrieb voll in den Händen der Lindauer Kaufleute.“Vornehmlich der drei reichsten.
Im Verlauf des 18. Jahrhunderts gewann der Speditionscharakter des Lindauer Boten immer mehr an Bedeutung. Denn in Norditalien kam es zu einem explosionsartigen Wachstum des Seidengewerbes, und immer größere Mengen des kostbaren Stoffes mussten gen Norden transportiert werden. „Der Lindauer Bote passte sich dieser Struktur an und wurde sukzessive zum Hauptkanal des Textilhandels zwischen Norditalien und Süddeutschland“, sagte der Referent und erklärte, dass es der Leistungsfähigkeit des Boten zu verdanken war, dass Lindau und Mailand zu zentralen Handelszentren aufstiegen, wodurch sie wiederum immer mehr Güter aus immer ferneren Gegenden zu sich lockten. Den Transport konnte der Bote jedoch keinesfalls allein bewerkstelligen. Ressel: „Der Bote hatte neben sich einen Pulk von Transporteuren.“
Der Historiker kommt zu dem Schluss: „Mit dem Lindauer Boten war Lindau ein Welthandelszentrum. Ohne denselben wäre die Stadt bedeutungslos gewesen.“Seine eigentliche Leistung sah Ressel jedoch darin, dass der Lindauer Bote es war, der den Weg für die Textilindustrie in Süddeutschland, Vorarlberg und Mailand geebnet hat.