„Bist du nicht ein bisschen jung für Heroin?“
Ex-Junkie $ick erzählt in „Shore, Stein, Papier“die Geschichte seiner Sucht
$ick ist gerade einmal 15 als er auf einer U-Bahntreppe in Hannover sitzt und sich ein „Blech“aus Alufolie zum Rauchen fertig macht. Darauf erhitzt er seine „Shore“, den aufsteigenden Rauch zieht er mit einem kleinen Röhrchen ab. Ein älterer Süchtiger dreht sich zu dem Jugendlichen um und fragt erstaunt: „Bist du nicht ein bisschen jung für Heroin?“$ick reagiert aggressiv: „Mann, laber keine Scheiße, Junge. Ich rauch Shore, kein Heroin.“„Rauch ich auch, mein Freund. Ist aber das Gleiche.“Schockstarre! Gefolgt von Wut. Gefolgt von Gleichgültigkeit. Es gibt kein Zurück!
Diese eine Szene bringt die ganze Tragik einer Junkie-Karriere schmerzhaft auf den Punkt. Ohne zu wissen, was er da eigentlich konsumierte, ist $ick heroinabhängig geworden. Die Abwärtsspirale rotiert erbarmungslos und $ick durchläuft in den folgenden Jahren einen bewegten und bewegenden Lebensstrudel inklusive kaltem Entzug, Obdachlosigkeit, Beschaffungskriminalität, Knastaufenthalten, Ausbruch und Überdosis. Ein Lebenslauf, wie ihn viele Süchtige vorweisen können und die Popkultur tausendfach nachzeichnete: Wir denken an „Trainspotting“, an „Requiem For A Dream“. Und, klar, an die Erlebnisse von Christiane F.
$icks Geschichte beginnt in den späten 1980ern und funktioniert wie eine Art erdrückendes Update zu „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. In seiner kürzlich im Piper-Verlag erschienenen Autobiografie „Shore, Stein, Papier“erzählt sie der Ex-Junkie, der nur unter seinem Pseudonym auftritt, bereits zum zweiten Mal. Premiere feierte die erdrückende Aufarbeitung in einem anderen Medium: Die Betreiber des YoutubeKanals zqnce setzten sich mit dem 1973 geborenen $ick an einen Tisch und ließen ihn erzählen. Ohne Effekte. Stundenlang. Das YouTube-Experiment endete nach 380 Folgen und wurde 2015 mit dem Grimme-PreisOnline ausgezeichnet.
Das erscheint außergewöhnlich: Die Aufmerksamkeitsspanne auf dem Videoportal gilt als extrem kurz. Dass Zehntausende Zuschauer eine ganze Lebensgeschichte aktiv verfolgen, erschien utopisch. Doch $ick, der nach zwei Jahrzehnten der Abhängigkeit und gescheiterten Zwangsentzügen seine Sucht durch eine komplexe Langzeittherapie erfolgreich bekämpfte, offenbarte sich online als grandioser Erzähler.
Aber hätte es die Buchvariante dann überhaupt gebraucht? Die schlichte Antwort: Ja. Bereits die mediale Vermischung von ungefilterter Oral History in Videoform und Literatur ist aus erzähltheoretischer Sicht extrem spannend. Weil sich Leser und Zuschauer Geschichten komplett anders erschließen, besitzen Buch und Serie einen unterschiedlichen Rhythmus.
Die Sprache des Buchs trägt Spuren von $icks Sprachduktus in sich („Raffst du’s noch?“, „Voll auf Sendung.“, „Gib Kette!“). Dabei vermischen sich die Genres zu einem bewegenden und authentischen Konglomerat aus Coming-Of-Age-Geschichte, Gefängnisroman und Kriminalitätsreportage. Für den Autor selbst, der aufgrund schwerer Einbrüche, Diebstahls und Drogenhandels mehrmals verurteilt wurde und mehrjährige Haftstrafen verbüßte, wurde das abermalige Durchleben seiner Odyssee zum Ringen mit sich selbst! „Das war ein ganz gewaltiger Kampf, mich all dem erneut zu stellen, gefühlt nochmal eine Langzeittherapie“, erklärte er. „Selten in meinem Leben habe ich soviel Ehrgeiz und Disziplin an den Tag legen müssen wie für dieses Buch, umso stolzer macht mich nun die Tatsache, dass ich es wirklich geschafft habe einen 432 Seiten starken Schinken abzuliefern,“erklärt $ick im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
„Shore, Stein, Papier“ist kurzweilig! Manche Episoden sind spannend, manche schreiend komisch. Der Horror des anhaltenden Zerfalls flimmert oft nur aus dem Hintergrund durch – das verlangt von den Lesern ein aktives Mitdenken. $ick
und das zqnce-Team betonen aber stets, dass „Shore, Stein, Papier“keinerlei Glorifizierung transportiert. Im Gegenteil: Das Projekt soll präventiv wirken und als abschreckendes Beispiel dienen. Der Blick in die Kommentare unter der Videoreihe bestätigt das. Von Verherrlichung ist dort keine Spur, der Austausch zwischen den Usern ist offen und von einer grundlegenden Ernsthaftigkeit geprägt. Durch die Popularität der Reihe ergeben sich große Chancen für die Drogenaufklärung – auch wenn sich alle Beteiligten des schmalen Grats bewusst sein müssen, auf dem sie wandeln.
„Ich denke, dass genau der Unterhaltungswert meiner Serie und des Buches die Kids zum Zuhören animiert. Vor allem, weil ich mich auch emotional in den Folgen und Kapiteln öffne und sie das Gefühl haben, dass sie mich bereits gut kennen. Und weil ich sie nicht anlüge. Ich schätze, das macht mich glaubwürdiger als jeder erhobene Zeigefinger!“
Im kommenden Jahr will sich $ick noch intensiver mit Präventionsarbeit beschäftigen, an Schulen gehen, aufklären und Kontakt mit dem jungen Publikum suchen. „Meine Jungs haben noch die ein oder andere gute Idee für zukünftige Projekte. Wir fangen nämlich gerade erst an!“
Weil ich sie nicht anlüge. Ich schätze, das macht mich glaubwürdiger als jeder erhobene Zeigefinger. $ick über seinen guten Kontakt zu Jugendlichen Das war ein ganz gewaltiger Kampf, mich all dem erneut zu stellen. Ex-Junkie $ick über sein Buchprojekt