Eine Süßigkeit namens Sig
Wälderschokolade – eine fast vergessene Spezialität aus dem Bregenzerwald
Eigentlich tut Ignaz Feurstein etwas völlig Alltägliches: Er kocht. Allerdings kocht er weder Gemüse noch Fleisch, auch keine Marmelade. Sondern etwas viel Spezielleres. Etwas, das aus dem Bregenzerwald kommt und dennoch auch dort nur von wenigen hergestellt wird. Feurstein macht Sig oder Wälderschokolade. Und wer ihm dabei einmal zugesehen hat, der wundert sich nicht, dass er einer der Letzten ist, die diese Spezialität produzieren.
Alles muss in Handarbeit gemacht werden. Nachdem die Molke ganze fünf Stunden vor sich hingeköchelt hat, verbringt Feurstein, der in Schwarzenberg lebt, anderthalb Stunden neben dem Kessel. Rührt, zügig kreisend in der Mitte. Rührt, zügig kreisend außen herum. Rührt drei Viertel Butter in die Molke ein und fünf Viertel Schlagrahm, außerdem 700 Gramm Zucker. Aber alles nur nach und nach, bedachtsam und mit Gefühl. Ab und an säubert er mit einem Konditorspachtel Rührer und Kesselrand. Ab und an kniet er auf ein Kantholz, um die Gasflamme unter dem riesigen Topf zu kontrollieren. „Es ist wichtig, dass die Temperatur nicht zu hoch ist. Sonst wird der Sig nach fünf, sechs Tagen sandig. Also trocken und bröselig“, erklärt Feurstein. Ebenso spricht gegen eine gute Qualität, wenn der fast fertige Sig zu dunkel wird. „Ein gutes Zeichen dagegen ist, wenn die Masse gegen Ende leicht glänzt.“Sagt’s und rührt in einer leicht glänzenden, zähen Flüssigkeit.
Salzig-säuerlicher Geschmack
Von Farbe und Konsistenz her erinnert diese an den flüssig-karamelligen Teil im Mars-Riegel. Tatsächlich schwingt beim Probieren des fertigen Sig eine leichte Karamellnote mit. Doch mit dem stark Gesüßten des Riegels hat die Wälderschokolade kaum etwas gemein. Vielmehr dominiert ein leicht salzig-säuerlicher Geschmack, eine lediglich dezente Süße rundet das Sinneserlebnis ab. Immer mehr Gourmetköche in Sternerestaurants kreieren mit der Spezialität zum Beispiel Desserts. Feursteins essen sie als Sigspätzle oder in dünnen Scheiben auf Brot.
Schon meine Mutter hat Sig gemacht. Das habe ich wohl geerbt. Ignaz Feurstein über seine Vorliebe für die Wälderschokolade
So haben dies auch schon ihre Vorfahren gemacht: „Vor hundert Jahren kannte man Sig auch schon. Damals hatte jedes Bauernhaus eine Feuerstelle, dort stand ein konischer Kessel mit drei Füßen. Über einem Holzfeuer wurde darin Sig gemacht.“Und als Ersatz für Honig beziehungsweise Marmelade verwendet. Allerdings: „Im Handel war er nie. Er war immer nur für den Eigengebrauch vorgesehen.“Auch heute ist es nicht einfach, Wälderschokolade zu bekommen. Vereinzelt gibt es diese im Einzelhandel oder in Sennereien. Mit Käserei und Milchverarbeitung hat sich Feurstein sein Leben lang beschäftigt, der 75-Jährige war selbst Senner und arbeitete vor seiner Pensionierung als Verkaufsfahrer einer Großmolkerei.
Aus dem Topf steigt nach wie vor Dampf auf, die Flüssigkeit kocht immer mehr ein. Die Blasen, die diese schlägt, werden größer, deren Farbe wird dunkler. Und das Rühren des mittlerweile zähflüssigen Inhalts wird anstrengend. „Eine Geduldsarbeit“, kommentiert Feurstein und lächelt dabei. „Wenn man daran keine Freude hat, hält man es nicht durch“, fügt er hinzu. Im Falle von Ignaz Feurstein ist es eine Passion. „Schon meine Mutter hat Sig gemacht. Das habe ich wohl geerbt.“
Seit mindestens 20 Jahren stellt er die Spezialität her. In immer derselben hohen Qualität. Oder vielmehr einer sehr ähnlichen. Das Ergebnis hängt von der Menge der Molke ebenso wie von der Topfgröße ab. Außerdem verwenden manche Hersteller Molkepulver anstatt frischer Molke. „Das Aroma ist am Ende nicht dasselbe“, sagt Feurstein. Dass sein Sig im Ergebnis immer wieder leicht anders schmeckt, bringt die Handarbeit mit sich. „Denn dass der Arbeitsablauf immer exakt derselbe ist, ist schier unmöglich.“
Kugeln formen
Und die Handarbeit hört beim Erkalten der Masse längst nicht auf. Feurstein trennt kleine Klumpen ab und wiegt diese routiniert. Auf exakt 22 Deka, das sind 220 Gramm, bringen es die Sig-Stücke danach. In der Küche legt Feurstein diese auf die mit Butter eingefettete Tischplatte aus Resopal. Kneten, flach klopfen, zu Kugeln formen. Fertig. Fast, denn etwas Wichtiges fehlt noch: Ignaz Feurstein drückt mit einem Backförmchen ein Herz in die Rundlinge. Damit dokumentiert er nicht nur, dass diese aus seinen Händen stammen. Sondern auch sein Verhältnis zu ihnen.