Wie Eltern für die Flüchtlinge sein
Psychotherapeut Wielant Machleidt spricht über die Angst vor dem Fremden und wie man sie bekämpft
LINDAU (andy) - Wie Eltern sollten die Deutschen für die Flüchtlinge sein, ist das Fazit des Vortrags von Wielant Machleidt bei der Psychotherapietagung in Lindau. Sie sollen sich um die Migranten kümmern und sie begleiten. Dann kann sich eine neue bikulturelle Gesellschaft mit Vorteilen für alle entwickeln, ist der Psychotherapeut überzeugt.
In seinem Vortrag am Dienstag über das Thema „Die Angst vor den Flüchtlingen in Politik und Gesellschaft“erklärt Machleidt zunächst, wie die Angst und der Hass auf Einwanderer entstehen. Es gibt für ihn das Fremde im Jenseits oder im unbekannten Draußen. Ein Problem gibt es erst, wenn das Fremde wie bei der Flüchtlingskrise in den eigenen Raum einbricht. Oft gibt es ein unüberbrückbare Nichtverstehen des Andersseins. Trifft das mit einem brüchigen Selbstwertgefühl zusammen, kann Fremdenfeindlichkeit entstehen, so Machleidt.
Hinzu kommt, dass viele Menschen die Flüchtlinge als Konkurrenten um die Ressourcen einer Gesellschaft, wie Wohnraum, Arbeitsplätze oder Sozialleistungen, wahrnehmen. Dieser sogenannte Revierreflex ist für Machleidt allerdings nichts Neues, sondern „eine Konstanze in der Anthropologie“. Es entstehen „Bedrohungsfantasien mit vagen Realitätscharakter“. Das kann man seiner Meinung nach am besten durch reale Erfahrungen bekämpfen. Er sagt: „Die Dynamik zwischen eigen und fremd wird immer neu ausbalanciert.“
Situation vergleichbar mit Erwachsenwerden
Die Situation der Flüchtling im Ankunftsland vergleicht Machleidt mit dem Erwachsenwerden. Wie sich der Jugendliche vom Elternhaus löst und eine eigenständige Persönlichkeit entwickelt, müssen sich auch die Einwanderer vom Heimatland lösen und eine neue Identität entwickeln. Machleidt betont: „Migranten wollen sich integrieren und nicht assimilieren.“Dafür benötigen sie Unterstützung. Die Gesellschaft muss Ziele formulieren und den Rahmen vorgeben.
Er glaubt, dass es bei weiten Teilen der Bevölkerung die Bereitschaft gibt, diese Elternfunktion einzunehmen. Das zeigt die Willkommenskultur aus dem Sommer 2015. Sie ist für Machleidt keineswegs aus reiner Nächstenliebe entstanden. Vielmehr setzen Migranten soziales Kapital gewinnbringend zum Nutzen aller ein.
Allerdings gibt es auch eine Grenze für die Aufnahme: Sobald soziales Vertrauen verloren geht, sinkt die Kooperationsbereitschaft untereinander. Deshalb seien hohe soziale Investitionen der Politik nötig.
Die Flüchtlingskrise zeigt zudem ein Paradoxon der liberalen Demokratien. Einerseits propagieren sie die Öffnung der Grenzen und die universellen Menschenrechte. Anderseits räumen sie ihren Bürgern exklusives Recht, wie das Wahlrecht oder Sozialleistungen, ein und setzen so wieder Grenzen. Machleidt sagt: „Liberale Demokratien kommen aus dem Herumeiern zwischen Öffnung und Abschottung nicht heraus.“Aber diese Ambivalenz müsse man aushalten.