Wenn Protest als Terrorismus gilt
In keinem europäischen Land sind so viele Journalisten inhaftiert wie in der Türkei
RAVENSBURG (dan) - Mit der Festnahme Mesale Tolus verfestigt die Türkei ihren Spitzenrang. In keinem anderen europäischen Land sind derzeit so viele Pressevertreter inhaftiert wie in der Türkei. Tolu ist neben dem „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel die zweite deutsche Journalistin, die sich wegen ihrer Arbeit in Haft befindet. Am Freitag wurde außerdem Oguz Güven, Online-Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“verhaftet.
Der Deutsche Journalisten-Verband geht von rund 150 Berichterstattern aus, die in der Türkei derzeit im Gefängnis sitzen. Die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG), die sich weltweit für freien Journalismus einsetzt, sieht die Türkei in ihrer aktuellen Rangliste der Pressefreiheit auf dem 155. Platz – von insgesamt 180 Staaten. Danach folgen Länder wie Syrien, China und Schlusslicht Nordkorea. Zum Vergleich: Die Schweiz steht auf dem 7., Deutschland auf dem 16. und Frankreich auf dem 39. Platz.
Auf der ROG-Liste der Feinde der Pressefreiheit führt die Vereinigung den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan – neben Nordkoreas Staatschef Kim Jong-un, dem kubanischen Präsidenten Raul Castro und den afghanischen Taliban. Nicht nur sitzen jedoch in der Türkei viele Journalisten in Haft. Auch wurden in den vergangenen Jahren unter Erdogans Herrschaft mehr als 150 Medien geschlossen, unter anderem wegen vermeintlicher Zusammenarbeit mit „terroristischen Organisationen“.
Als Unterstützung terroristischer Gruppen gilt in der Türkei bereits die Teilnahme an Solidaritätsaktionen für kurdische Kollegen – wie bei dem Journalisten Erol Önderoglu und dem „Cumhuriyet“-Kolumnisten Ahmet Nesin, die 2016 festgenommen wurden, weil sie an einer Demonstration für die kurdische Zeitung „Özgür Gündem“teilnahmen.
Die Lage der unabhängigen, linken oder oppositionellen Medien in der Türkei hat sich vor allem seit dem Ausnahmezustand verschlechtert. Erdogan hatte ihn als Reaktion auf den Putschversuch im Juli 2016 ausgerufen. Doch bereits seit rund einem Jahrzehnt verschlimmert sich die Situation für Fernseh- und Radiosender und Zeitungen. Führende türkische Medien wurden vom Staat übernommen oder von regierungsnahen Investoren aufgekauft.