Der Mann, um den es eigentlich geht
NRW wählt, und alle blicken auf Martin Schulz – Heimspiel des SPD-Spitzenkandidaten in Würselen
WÜRSELEN - Hier also ist er zu Hause. „Kanzler-Unterbezirk“steht auf den roten Schildern, die Jusos vor der Freilichtbühne Wilhelmstein in die Höhe halten. Es ist ein Heimspiel für Martin Schulz.
An der Felswand der Burgruine von Würselen lehnen ein Meter hohe SPD-Buchstaben. Rund 300 Anhänger warten hier auf Schulz, darunter seine Familie. Sein Neffe spielt in der Band mit. Mit der Landtagsabgeordneten Eva Maria Voigt-Küppers ist er seit 40 Jahren befreundet. Hier in Würselen hat er in der Schule versagt und beim Fußball aufhören müssen. Hier ist er kurze Zeit dem Alkohol verfallen. Hier hat er sich aber auch wieder hochgearbeitet, seine Buchhandlung eröffnet, ist Bürgermeister geworden. Hier wohnt er heute noch.
„Die Leute haben einfach gesagt: ,der kann das’“, berichtete sein Bruder Walter bei der Buchvorstellung „Verstehen Sie Schulz?“in Berlin. Und seine Schwester Doris sagt, dass er zum Kapitän der Fußballmannschaft wurde, weil alle wussten, dass er mit seinem Redetalent den Geist beschwören kann, ein 0:3 noch umzuwandeln in einen Sieg.
Schafft er es auch diesmal? Auf den letzten Metern wird die Wahl in Nordrhein-Westfalen für die SPD zur Zitterpartie. Von den 39 Prozent der letzten Wahl ist sie weit entfernt. Sie liegt in Umfragen knapp über 30, seit Neuestem sogar hinter der CDU, die mit Armin Laschet als Spitzenkandidat antritt.
Eigentlich ist es Hannelore Krafts Wahlkampf, seit sieben Jahren ist sie hier Ministerpräsidentin. Es ihre Regierung, die in NRW bestätigt oder abgewählt wird. Und doch, jeder in der SPD – und ihr Chef selbst erst recht – weiß, dass Martin Schulz auf dem Prüfstand steht. Wenn die SPD am Sonntag in NRW nicht gewinnt, ist der Schulz-Zug gestoppt. Dann sind die Aussichten schlecht, dass die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl etwas drehen können.
„Noch 71 Stunden Wahlkampf“ermuntert die unermüdliche Ulla Schmidt in Aachen den Kandidaten. Schulz kämpft. Erst in Aachen, dann im sieben Kilometer entfernten Würselen. Hier im Drei-Länder-Eck, wo man beim Spaziergang nicht weiß, ob man noch in Deutschland oder schon in Belgien ist, hier erzählt Schulz von seinem Europa. Einem Europa, das mehr bringt, als es kostet.
In Aachen „der Stadt, die sich im Schatten von Würselen ganz gut entwickelt hat“, redet er vor dem Rathaus. Jenem monumentalen, domähnlichen Bau, in dem er 2015 den Karlspreis bekam. Zwei Stunden später in Würselen rechnet er Europa vor. Sicher, die Deutschen bürgen für 27 Prozent des Stabilitätsmechanismus, doch die Franzosen eben auch für 20, die Italiener für 18 Prozent. Für Schulz steht fest, dass sich für dieses Europa, das Gegenmodell zu den Trumps, Putins und Erdogans dieser Welt, der Einsatz lohnt.
Werben für Investitionen
Beschwörend geht er in die Knie, als er für mehr Investitionen wirbt. Er werde als Kanzler zusammen mit Frankreichs Präsident Macron eine europäische Initiative starten. Und dann geht er in Aachen und Würselen auf Tuchfühlung mit den sogenannten kleinen Leuten, denen man mehr Respekt zollen müsse.
Die SPD verspricht den 13,2 Millionen Wählern in NRW, die Kita-Gebühren in einer 30-Stunden-Kernzeit wegfallen zu lassen, Internet an die Schulen zu bringen, Facharbeiter zu qualifizieren und Risikokapital für neue Geschäftsideen zu erleichtern, damit niemand mehr das Häuschen von der „Omma“verpfänden müsse.
Schulz stellt klar, dass ein Busfahrer genauso viel Verantwortung für Menschenleben trägt wie ein Chirurg. Deshalb fordert er auch den gleichen Respekt. Genauso wie die Anerkennung und mehr Unterstützung für all jene, die überbeansprucht sind, die Kinder noch zu Hause und die Eltern schon pflegebedürftig. „So ist es, mir geht es so“sagt der Mittfünfziger hinten auf der Holzbank, der am Sonntag den Wahlabend nicht mehr mit den Genossen feiern gehen kann, weil er familiär gebunden ist. Gibt es denn etwas zu feiern? „Bei uns in Würselen bestimmt“meint er. Und für alles andere drückt er die Daumen.
Als plötzlich ein Wind aufkommt, wackelt die Leinwand hinter Schulz, auf der „mehr Gerechtigkeit“steht, bedenklich. Ein Raunen ertönt. Martin Schulz dreht sich kurz um. „Dahinter steht der Laschet“, sagt er. Das ist ein Witz, und doch enthält er ein Körnchen Wahrheit.
Armin Laschet, der freundliche CDU-Spitzenkandidat, den bisher niemand in der SPD so recht ernst nahm, ist plötzlich doch eine Gefahr. „Wir haben noch zwei bis drei Tage Zeit, die Menschen zu mobilisieren“, sagt Schulz. Da sich fünf Prozent erst am Wahltag entscheiden, lohne der Kampf bis zur letzten Minute. „Ich bin sicher, wir werden am Sonntag vorne liegen“, sagt der SPD-Kandidat.