Kunstwelt, die aus dem Leben schöpft
Lorenz Göser und Elmar L. Kuhn lesen bei Gessler 1862 in Friedrichshafen aus ihrer Walser-Anthologie
FRIEDRICHSHAFEN - „Machen wir uns auf das Schönste gefasst“, hat Lorenz Göser am Freitag die Zuhörer begrüßt, die an diesem heißen Sommerabend zu einer ungewöhnlichen Lesung in die Buchhandlung Gessler 1862 nach Friedrichshafen gekommen waren. Buchhändlerin Chantal Kollmar hatte sich schon lange auf den Walser-Abend gefreut, am Ende dankte sie Lorenz Göser und Elmar L. Kuhn für ihre Auswahl.
Göser, der ehemalige Kulturbeauftragte der Gemeinde Kressbronn, und Kuhn, der frühere Leiter des Kreiskulturamts, beide aus Kressbronn stammend, fanden sich schon als Jugendliche in der gemeinsamen Begeisterung für Martin Walser. Auf der Suche nach einem geeigneten Geschenk zu dessen 90. Geburtstag kam ihnen die Idee, alphabetisch alle Orte rund um den See aufzuführen, die in Walsers umfangreichem Werk vorkommen, mitsamt entsprechenden Textausschnitten. Als die Überlinger Verlegerin Anja Schutzbach davon Wind bekam, wurde ein Buchprojekt daraus und pünktlich zum Geburtstag erschien bei Weissbooks die Anthologie „Nirgends wäre ich lieber als hier – mit Martin Walser unterwegs am Bodensee“mit ausgewählten Textstellen. Daraus lasen abwechselnd die beiden Herausgeber, stolz darauf, „dem großen Martin Walser ihre Stimme leihen zu dürfen“, wie Kuhn sagte.
Häfler Textstellen
Nach der Buchvorstellung in Wasserburg und Lesungen in Überlingen und Kressbronn jetzt also Friedrichshafen. Es war gar nicht so leicht, passende Textstellen zu finden. Obwohl Walser mehrere Jahre in Friedrichshafen gelebt und gearbeitet hat, kommt die Stadt nur am Rande vor. Etwa im Roman „Jenseits der Liebe“als Endstation einer Eilzugfahrt von Ulm an den See, auf der „die härtesten und schwersten Eisenbahnwagen der Welt“in ihren Abteilen den immer gleichen Geruch transportierten – ein Beispiel auch für Martin Walsers hintersinniges Schreiben. Eindrucksvoll ist die Schilderung der Bombardierung der Stadt, die Walser aus Erzählungen seiner Frau kannte (Tagebücher 1979 bis 1981).
Wenige Worte genügen und der Zuhörer ist mittendrin. Draußen vor dem Fenster fließt kaum hörbar der Verkehr, flanieren die Menschen. Reales Leben begegnet einer Kunstwelt, die voll aus dem Leben schöpft. Von Liebesgeschichten ist zu hören und vom alltäglichen Leben. Es fehlt nicht an Dramatik, wenn Helmut Halm seinem alten Schulfreund Klaus Buch wütend das Ruder aus der Hand schlägt, weil er genug hat von dessen Eskapaden. Elmar Kuhn hört am Höhepunkt auf, die meisten kennen die Novelle „Ein fliehendes Pferd“. Die Textstelle aus dem Roman „Seelenarbeit“von den Einbußen der Anlieger beim Bau der Umgehungsstraße um Kressbronn hat in Friedrichshafen neue Aktualität.
Die Dichte der vorkommenden Orte ist um Kressbronn am höchsten, aber auch der Westen kommt zu seinem Recht, die Birnau, Nussdorf. Selbst ein Blick von oben, vom Pfänder herunter darf nicht fehlen. Die gehörten Ausschnitte wecken den Wunsch, wieder einmal Walser zu lesen und sich an seinen oft hintergründigen Bemerkungen zu erfreuen.