Bienen, Bier und Wassergeschichten
„Skulptur Projekte“in Münster zeigen, dass Kunst auch unterhalten darf – Eine Alternative zur documenta in Kassel
MÜNSTER - „Willi, frach doch mal den jungen Künstler, ob er ‘n Bier will“, ruft eine füllige Dame hinter der Ligusterhecke. „Bei dem stehen lauter Leute“, raunzt es zurück, und das sagt schon eine Menge: In einer Kleingartenanlage kann man nicht verdursten – und Jeremy Deller ist schwer gefragt. Der Turner-Preisträger aus London gehört zu den Superstars der „Skulptur Projekte Münster“und schaut den Sommer über regelmäßig vorbei.
Alle zehn Jahre leistet sich die 300 000-Einwohner-Stadt in Westfalen diese Großausstellung, wobei sich groß auf das Raumgreifende ihrer Objekte und den internationalen Anspruch bezieht. Neben den Ankäufen vergangener Projekte sind Arbeiten von 35 vornehmlich namhaften Künstlern zu sehen, sechs davon im 60 Kilometer entfernten Marl, das erstmals als Partner im Boot ist.
Biblische Wunder
1977 wurden die „Skulptur Projekte“von den Museumsleuten Kasper König und Klaus Bußmann ins Leben gerufen, aber nicht etwa, weil man in Münster Lust auf zeitgenössische Kunst hatte. Im Gegenteil. Drei rotierende Quadrate des amerikanischen Bildhauers George Rickey sorgten zwei Jahre zuvor für mächtigen Aufruhr in der gediegen konservativen Stadt. Das brachte König auf den Plan, Kunst überhaupt zur Diskussion zu stellen. Und das funktioniert immer noch am besten im öffentlichen Raum.
Jetzt wandeln die Leute im Becken am Dortmund-Ems-Kanal übers Wasser. Allerdings nicht auf leuchtenden Stoffbahnen wie sie Verpackungskünstler Christo im vergangenen Sommer über den norditalienischen Iseo-See legen ließ, sondern auf einem Unterwassersteg aus Containern. Ayse Erkmen war zwei Jahre lang mit der höchst komplizierten Planung beschäftigt, Architekten, Statiker und die Feuerwehr gleich mit dazu, um das gar nicht so biblische Wunder zu ermöglichen. Denn statt wie Jesus auf dem See Genezareth zu wandeln, fühlt man sich in dieser Kneipp-Anlage eher wie in Venedig bei Hochwasser. Ein nettes Erlebnis, aber nicht mehr.
Subversives hat sich dagegen Justin Matherly ausgedacht, der seinen Skulpturen gerne Gehhilfen verpasst. Im grünen Bereich der Promenade, die sich um die Innenstadt schmiegt, ist es die Eins-zu-einsNachbildung eines Felsens am Silvaplanersee im Oberengadin. Friedrich Nietzsche kam hier im August 1881 der Gedanke der ewigen Wiederkunft – wahrscheinlich sprach Zarathustra vom Gipfel. Vor Matherlys Fake-Hügel aus Glasfaser tut sich stattdessen gar nichts, die Aura des Originals lässt sich eben nicht „reproduzieren“. Und schließlich wird das Ganze von Krücken aus örtlichen Krankenhäusern gestützt, wer denkt da noch an Übermenschliches?
Amüsant geht’s bei Nicole Eisenmans chillenden Brunnenskulpturen zu. Frei nach Cézannes großen Badenden räkeln die sich geschlechtslos in der Sonne und unterlaufen dabei den pathosgetränkten Denkmalpomp alter Zeiten. Klug und humorvoll zugleich bieten solche Arbeiten ein wohltuendes Gegenüber zur häufig moralisierenden documenta, deren Kuratoren ignorieren, dass Kunst auch unterhalten, erheitern und ein Spiel mit der eigenen Geschichte sein darf.
Absurditäten des Welthandels
Natürlich ist genauso Kryptisches, Schwergewichtiges oder Vertracktes dabei, das gehört zu einer solchen Positionsbestimmung skulpturalen, inzwischen auch performativen Schaffens dazu. Der hoch gehandelte Franzose Pierre Huyghe hat dafür eine zum Abriss freigegebene Eissporthalle in eine Kraterlandschaft verwandelt. Bewohnt wird dieses postapokalyptisch anmutende Biotop von Fischen im Aquarium, Bienen und Krebszellenkulturen. Zwei zentrale Pfauen hielten die triste Umgebung nicht lange aus und wurden schwer depressiv – jetzt ist tierischer Ersatz gefragt. Das Veterinäramt schlug Meerschweinchen vor, die haben vermutlich ein dickeres Fell, doch die Allerweltsnager sind dem documentaTeilnehmer von 2012 zu unscheinbar.
Das gibt durchaus zu grübeln, zumindest bis man in Mika Rottenbergs schrappligem Asia-Laden landet, mit dem sie mal wieder die Absurditäten des Welthandels aufs Tapet bringt, sich am Lagerfeuer vom ehemaligen Hacker Aram Bartholl via „Stockbrottechnik“das Handy aufladen lässt oder bei Michael Smith Haut und Mut zeigt. Der Amerikaner hat ein Tattoo-Studio eingerichtet, wer über 65 ist, bekommt Rabatt. Nonsens muss halt auch sein.
Die 650 000 Kunstsinnigen, die man bis 10. Oktober erwartet, werden sich jedenfalls nicht langweilen, mit acht Millionen Euro haben Münster und Marl auch tief in die Tasche gegriffen. Doch sie profitieren, nicht zuletzt weil ihre Bürger ins Gespräch kommen. Der eingangs erwähnte Jeremy Deller hat die Kleingärtner regelrecht aus ihrer Gartenhäuslesreserve geholt. Zwei Jahre lang wurde in den Kolonien Tagebuch geführt, minutiös ist da beschrieben, welches Röslein gerade Sorgen macht und wie viele Gießkannen der Salat auf Beet X schluckt, wie der Kuchen von Gerda gelingt und mit wem der Hans ein Alt getrunken hat.
Apropos Bier. Deller hat immer noch keins bekommen, dafür immer noch Besuch. Die meisten interessieren sich weniger für die ausgelegten Tagebuchwälzer, als für den Künstler im Korbsessel. Dabei sei diese kuriose Kleingartenkultur weltweit einzigartig, erklärt er mit unbewegter Miene, setzt die Sonnenbrille auf und denkt sich seinen Teil.