Auf Arbeitsgerichte rollt Klagewelle zu
Karlsruher Urteil zur Tarifeinheit verweist wichtige Entscheidungen an die Gerichte
BERLIN - Der Bund muss beim Tarifeinheitsgesetz nachbessern. Das Bundesverfassungsgericht verlangt einen besseren Schutz der einzelnen Berufsgruppen oder Branchen. Ansonsten halten die Karlsruher Richter die Regelung, nach der nur die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern für einen Betrieb verhandeln darf, kleinere Gewerkschaften deren Abschlüsse nur übernehmen dürfen, für verfassungsgemäß. Zwei der sechs Richter gaben jedoch ein Sondervotum ab. Für sie verstößt dieses Verbot konkurrierender Tarifverträge gegen das Grundgesetz.
Der Vizepräsident des höchsten Gerichts, Ferdinand Kirchhof, erklärte den Beteiligten, dass die Tarifeinheit mit der Verfassung grundsätzlich vereinbar sei. Es bleibt also in Kraft, zumindest bis zum 31. Dezember 2018. Denn zugleich verlangt sein Senat von der Bundesregierung bis dahin zusätzliche Regeln, die den Schutz der Interessen von Kleingewerkschaften wie die der Piloten, Krankenhausärzte oder Lokführer sicherstellen. Ansonsten gilt im Konfliktfall der Tarifvertrag eines Arbeitgebers mit der Gewerkschaft, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Bestehende andere Tarifverträge werden dadurch verdrängt, wie es juristisch heißt.
Koalitionsfreiheit bestätigt
Gleichwohl bestätigte das Verfassungsgericht die im Artikel 9 des Grundgesetzes festgeschriebene Koalitionsfreiheit. Das heißt, Arbeitnehmer können sich zusammenschließen und ihre Interessen vertreten, auch durch einen Arbeitskampf. Dieses elementare Recht sahen die Kläger durch das Tarifeinheitsgesetz bedroht. Deshalb sehen sie im Urteil auch einen Teilerfolg. „Für die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) geht alles weiter wie bisher“, sagt deren Chef Claus Weselsky. Der zu den Klägern zählende Deutsche Beamtenbund sieht das Streikrecht zwar nun auch als gesichert an, rechnet aber mit viel Arbeit für die Fachgerichte. Denn denen weisen die Karlsruher Richter wesentliche Aufgaben bei der Klärung von Konflikten konkurrierender Gewerkschaften zu.
Dabei geht es um die Mitgliedermehrheit im Betrieb. Diese zu ermitteln, ist keine einfache Aufgabe. Die Arbeitgeber sollen nicht wissen, welcher Arbeitnehmer in einer Gewerkschaft ist. Die Gewerkschaft muss ihre Stärke oder Schwäche auch nicht preisgeben. In der bisherigen Form sollen unabhängige Notare die Auszählung übernehmen. Karlsruhe will nun Arbeitsrichtern diesen Job überlassen.
Dies und eine zweite Vorgabe der Richter könnten zu jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzungen führen. Denn den Fachgerichten obliegt es auch zu klären, ob die Interessen der Minderheitsgewerkschaft bei Tarifverhandlungen angemessen berücksichtigt wurden. Ist dies nicht der Fall, gilt der Tarifvertrag der kleineren Konkurrenzgewerkschaft weiter. „Unzählige Prozesse drohen zu jahrelanger Rechtsunsicherheit zu führen“, befürchtet die stellvertretende VerdiChefin Andrea Kocsis. Und Gewerkschaften müssten ständig nachweisen, dass sie über eine Mehrheit verfügen – vor, während und nach Tarifverhandlungen. Momentan hat das höchste Gericht also nur eine Unsicherheit beseitigt. Der Gesetzgeber hat den Spielraum, die Tarifeinheit vorzugeben. Ob damit das Ziel des Gesetzes erreicht wird, Anreize für eine kooperative Lösung der Tarifkonkurrenz zu setzen, erscheint offen.
Bislang ist das Tarifeinheitsgesetz noch nie angewendet worden. Von einem Fall berichtet jetzt dbb-Chef Dauderstädt. Die Beamtengewerkschaft sei bei manchen Krankenkassen die Minderheitsgewerkschaft. Die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) habe angekündigt, dass sie sich nur mit der Mehrheitsgewerkschaft Verdi an den Verhandlungstisch setzen wolle. In diesem Fall müssten sich die viele Hoffnungen und Befürchtungen in Zusammenhang mit der Tarifeinheit erstmals an der Wirklichkeit messen lassen.