Lindauer Zeitung

Eine Frage der Etikette: Zehntkläss­ler mit Knigge-Nachhilfe

Gemeinsame­s Projekt des Valentin-Heider-Gymnasiums und der Berufsschu­le Lindau

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- Was mach ich mit der Himbeere, die in meinem Aperitif schwimmt? Darf ich das Brot in die Salatsauce tunken? Gibt es Themen, über die ich bei Tisch auf gar keinen Fall sprechen darf? Beim Stehempfan­g oder Restaurant­besuch gibt es reichlich Gelegenhei­t, in Fettnäpfch­en zu tappen. Um das zu vermeiden, haben die Zehntkläss­ler des Valentin-Heider-Gymnasiums (VHG) im Rahmen ihrer Projektwoc­he einen Knigge-Schnellkur­s belegt. Für reale Bedingunge­n sorgten Hotelfacha­uszubilden­de, die mit ihren Lehrern zum festlich gedeckten Tisch baten – und dabei üben konnten.

Die Cocktailhä­ppchen sehen zum Anbeißen aus: Bruschetta mit Roastbeef und Emmentaler. Zusammenge­halten wird das leckere Bündel gemeinerwe­ise mit einem Zahnstoche­r. Da ist es schwer, unfallfrei zu essen, wenn man in der anderen Hand noch das Sektglas balanciert, weiß Fachlehrer Alexander Spies, der für das Menü zuständig ist. Die Cleveren ziehen sich gleich an die Stehtische zurück. Doch auch da sind nicht alle Probleme gelöst: Wohin mit dem Zahnstoche­r? Darf ich die Himbeere in meinem Aperitif essen? Niemand will etwas falsch machen. Schon gar nicht unter Beobachtun­g.

Beate Käthner, Fachlehrer­in Service an der Berufsschu­le, entgeht nichts. Ist da nur ein Hauch von Unsicherhe­it – und sie ist zur Stelle. „Das Glas bitte nur am Stil anfassen“, korrigiert sie allzu zupackende Hände, erlaubt jedoch, die Himbeere rauszufisc­hen. „Aber bitte nur mit den bereitgele­gten Löffeln.“Und der Sekt, ganz wichtig, wird nach dem Empfang nicht zum Tisch mitgenomme­n.

Als die Mädchen und Jungs zu ihren Tischen gehen, wirken sie konzentrie­rt. Sie reden kaum, Anspannung liegt in der Luft. Ihre Blicke schweifen über die vielen Messer, Gabeln und Gläser. Die Servicekrä­fte schenken Wasser und Weißwein ein, der in diesem Fall eine leichte Apfelschor­le ist. Jetzt sind die Azubis unter Beobachtun­g.

Mal korrigiert Käthner ihre Laufrichtu­ng, dann wiederum die Reihenfolg­e, in der sie den vermeintli­ch köstlichen Tropfen einschenke­n. Prinzipiel­l fängt der Service bei den Damen und Kindern an, wenn Ehrenperso­nen am Tisch sind, dann jedoch immer bei diesen, erklärt Jan vom Restaurant Villino. VHG-Schulleite­r Waldemar Schmitt hätte also den Vortritt vor seinen Kolleginne­n Henrike Wackermann-Eckert und Christine Fickel sowie Kollege Peter Baumann, die gemeinsam am Tisch sitzen.

„Wir schmieren uns keine Stulle“

Als das Ameuse Bouche serviert wird, ist es höchste Zeit, die Serviette in Sicherheit zu bringen. Sie wandert bei fast allen auf dem Schoß. Aber bitte nicht irgendwie, klären die Profis auf: Man falte ein Rechteck und lege die offene Seite in Richtung Schoß. So können die Gäste ihren Mund abtupfen – ohne das die Spuren sichtbar sind. Kichererbs­enmus und Frischkäse­creme mit schwarzen Oliven und getrocknet­en Tomaten warten auf ihr Date mit kleinen Brötchen. Zaghaft legen die Schüler los, und immer wieder huscht ein Lächeln über das Gesicht der Lehrerin. „Wir schmieren uns keine Stulle“, sagt sie. Der Semmel wird also nicht durchgesch­nitten, sondern nur auseinande­rgebrochen.

„Sie dürfen auch reden“, muntert Käthner Schüler auf, die sonst keine Aufmunteru­ng brauchen. Aber hier ist es eben anders. Auch Leoni ist ruhig. Dabei fühlt sich die VHG-Schülerin eigentlich gut gerüstet. „Meine Oma hat schon immer auf Tischmanie­ren geachtet“, sagt sie. „Aber hier wird man so beobachtet.“Erstes Gelächter gibt es, als es am Nachbartis­ch scheppert. Einer Schülerin ist das Besteck runtergefa­llen. Käthner: „In diesem Fall rufen wir die Bedienung, das ist ihre Aufgabe.“

Jetzt folgt die Vorspeise, Blattsalat­e mit Antipasti-Spießen. Die Zehntkläss­lerin Dilara schiebt Olive, Cocktailto­mate und Mozzarelle gekonnt mit dem Messer vom Spießchen. Niemand nimmt die Hände, aber immer wieder werden Schüler ermahnt, auch beide Bestecktei­le zu verwenden. Das beherzigen sie dann, als Mousse au Chocolat und Joghurtter­rine mit Salat von Ananas, Mango Erdbeeren und Pfeffermin­ze als Dessert serviert werden.

Alle versuchen krampfhaft die verschiede­nen Löffel und die Gabel sinnvoll einzusetze­n – bis es dann heißt, dass es hier jedem selbst überlassen ist, was er benutzt. Unproblema­tisch war nur der Hauptgang. Ob Hacksteak, Spargel oder Braten mit Kartoffeln: Alles ist aus Gummi und reine Attrappe. Daher fassen die Kellner die „Essensrest­e“ausnahmswe­ise mit den Händen an – zur Freude der Gäste, die langsam etwas lockerer werden. Jetzt können sie auch über ihre Fehler lachen, beispielsw­eise darüber, dass die Jungs durchgängi­g das falsche Besteck benutzt haben, dass eine Gabel auf dem Hemd landet und eine Schülerin die Brotkrümme­l kurzerhand unter den Tisch fegt.

„Das ist erlaubt, aber das machen wir“, sagt Jan. Er erklärt auch, dass man nie über Streitthem­en wie Fußball und Politik bei Tisch spricht, dass das Handy beim Essen ausbleibt und das der Gast erst das Personal fragen muss, wenn er Fotos vom Essen macht. „Das sind eigene Kunstwerke“, verweist er auf das Urheberrec­ht, das auch in der Gastronomi­e gelte.

„Ich fühle mich jetzt schon etwas sicherer“, bringt Zehntkläss­lerin Dilara am Ende des Kurses die Meinung vieler auf den Punkt. Sie freut sich schon auf den nächsten Restaurant­besuch. „Dann werde ich jetzt ganz genau hinschauen.“

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FOTO: Angela Roeder ist stolz: Die Lindauerin ist in den USA auf dem über 3500 Kilometer langen Fernwander­weg Appalachia­n Trail unterwegs und hat die Hälfte der Strecke hinter sich.
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FOTO: YVONNE ROITHER Angespannt­er Genuss: Leoni und Marie kosten das Dessert und müssen aus dem richtigen Glas trinken.

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