Frankreichs dunkelste Stunden
Am Sonntag hat sich die Massendeportation von Juden aus Paris zum 75. Mal gejährt – Die Razzia „Vél d’Hiv“ist noch immer unverarbeitet
PARIS - Joseph Weismann ist ein imposanter Mann. Groß, kräftig, mit Orden auf der linken Brust. Erst vor drei Jahren erhielt er die Auszeichnung derer, die davongekommen sind – „Les evadés“. Weismann, 86 Jahre alt, überlebte die Massenfestnahme von Juden am 16. Juli 1942 in Paris. Er ist der kleine blonde „Jo“, die Hauptperson des Films ‚Die Kinder von Paris’, dessen Eltern und Schwestern bei der „Rafle“festgenommen, nach Auschwitz deportiert und vergast wurden. Weismann spricht nicht viel über das, was damals passierte. Die Hitze, den Gestank im Wintervelodrom, jener Radsporthalle, wo rund 8000 Juden fünf Tage lang ohne Wasser und Nahrung wie Tiere zusammengepfercht waren. Wenige Schwarz-Weiß-Fotos zeigen vor allem Frauen und Kinder, die ermattet auf der schrägen hölzernen Rennstrecke liegen. Das „Vél d’Hiv“ist in jenen Tagen ein Vorzimmer des Todes, denn fast alle Insassen, darunter mehr als 4000 Kinder, wurden nach Auschwitz deportiert. Und nur ein paar Dutzend kehrten zurück.
Aufklärung in Schulen
„Die Bedingungen, unter denen wir festgehalten wurden, sind in dem Film zu sehen, bei dem ich mitgewirkt habe“, sagt Weismann bei einer Gedenkveranstaltung in der Pariser Holocaust-Gedenkstätte schlicht. Erst vor wenigen Jahren hat er angefangen, über die Ereignisse des Sommers 1942 zu berichten. Simone Veil, die Ex-Ministerin und AuschwitzÜberlebende, hatte ihn damals überredet, seine Memoiren zu schreiben. Seither tritt Weismann in Schulen auf, um vom Grauen jener Julitage zu erzählen. Das machte bis vor Kurzem auch Sarah Lichtsztejn-Montard, die „Jo“gut kennt. Sie ist die einzige noch lebende Zeugin des Vél d’Hiv im Großraum Paris, doch seit einem Sturz vor wenigen Wochen spricht die energische 89-Jährige nur noch am Telefon über ihre Erinnerungen: „Es war direkt zu Beginn der Sommerferien. Ich hatte eine jüdische Mitschülerin, deren Eltern von einem Polizisten vor Massenfestnahmen gewarnt worden waren“, schildert die Tochter polnischer Einwanderer mit dunkler Stimme die Situation. „Doch Mama wollte mir nicht glauben. Sie wähnte sich in Frankreich, dem Land der Menschenrechte, in Sicherheit.“
7000 „Flics“im Einsatz
Diese Sicherheit wird am 16. Juli 1942 um sechs Uhr morgens erschüttert, als zwei Polizisten an die Wohnungstür klopfen. Französische Polizisten sind es: einer in Uniform und einer in Zivil. Rund 7000 „Flics“waren damals für die größte Verhaftungsaktion in der Geschichte im Einsatz. „Die deutschen Besatzer wollten keine deutschen Polizisten einsetzen, um die französische Bevölkerung nicht zu provozieren“, erklärt der Historiker Serge Klarsfeld diese Entscheidung. Insgesamt 13 152 Juden nimmt die Polizei am 16. und 17. Juli 1942 fest. Fast noch einmal so viele sollten es ursprünglich sein, doch Tausende tauchten nach Hinweisen auf die Razzia unter.
Sarah steht nicht auf der Liste, die die beiden Polizisten in der Rue des Pyrenées dabeihaben. Doch einer der Beamten setzt sie einfach noch zusätzlich drauf. „Meine Mutter flehte ihn auf Knien an, mich nicht mitzunehmen.“Vergebens. Die beiden Frauen werden abgeführt und zu den anderen Juden gebracht, die von überall her zusammengetrieben werden. Einige mit Koffern oder einer Matratze über der Schulter, viele mit ihren Kindern auf dem Arm. Erstmals zielt die Razzia nicht nur auf Männer, sondern auf ganze Familien ab. In überfüllten Linienbussen werden sie von Belleville, dem Arbeiterviertel im Norden von Paris, in die Stadt hinunter gekarrt. Sarah sieht dabei eine Klassenkameradin, die die Straße entlang spaziert. „Ich habe immer noch dieses Gefühl der Ungerechtigkeit, das ich damals empfand, weil sie frei herumlaufen konnte, während ich eingesperrt wurde, weil ich Jüdin bin.“
Vom Vél d’Hiv, ist ihr vor allem das grünliche Licht in Erinnerung geblieben. Das blaue Glasdach über der Arena verursachte die gespenstische Beleuchtung, von der Sarah hinterher noch lange Alpträume hatte. Auch an den Lärm und den Gestank erinnert sie sich: „Da die Toiletten schnell verstopft waren, erleichterte sich jeder, wo er gerade konnte.“Zu essen und zu trinken gibt es trotz der Hitze nichts. Ihre Mutter erkennt schnell, dass die Juden nicht festgenommen wurden, um zum Arbeiten nach Deutschland gebracht zu werden, wie ihnen gesagt wird. „Als die ersten Rollstühle und Krankenbahren ins Stadion kamen war klar, dass man uns angelogen hat.“Die beiden Frauen beschließen deshalb zu fliehen. „Ich war damals sehr schüchtern, doch weil meine Mutter darauf bestand, schlüpfte ich hinter einem Polizisten aus dem Velodrom.“Als ein anderer Beamter fragt, wo sie hinwolle, sagt sie nur: „Ich habe jemanden gesucht.“Den Mantel mit dem gelben Judenstern trägt sie dabei unter ihrem Arm. „Mit dem Mantel bei der Hitze muss er gemerkt haben, dass ich Jüdin war. Aber er sagte nur ‚Hau ab‘. Das hat mir das Leben gerettet.“Auch die Mutter entkommt aus dem Velodrom. Zusammen verstecken sich die beiden Frauen zwei Jahre lang, bis sie 1944 verraten und nach Auschwitz deportiert werden. Erst am 24. Mai 1945 kommen sie nach Frankreich zurück.
Velodrome wurde abgerissen
Das Vél d’Hiv wird fünf Tage nach den ersten Festnahmen geräumt. „Wir wurden in völlig überhitzten und überfüllten Zügen weggebracht“, erinnert sich Weismann, der ins Lager Beaune-la-Rolande südlich von Paris kommt, aus dem er zusammen mit einem Freund später flieht. In der Rue Nélaton, wo einst die größte Veranstaltungshalle von Paris stand, ist heute nichts mehr davon zu sehen. 1959 wurde das Wintervelodrom abgerissen und machte einem kastenförmigen Wohnblock Platz. Ein paar Meter weiter, am Platz der jüdischen Märtyrer, schuf der KZÜberlebende und Bildhauer Walter Spitzer 1994 ein Monument, vor dem seither jedes Jahr am 16. Juli an die Opfer erinnert wird. Die Bronzegruppe aus sieben Männern, Frauen und Kindern steht ganz hinten versteckt in einem kleinen Park an der Seine, nur wenige Hundert Meter vom Eiffelturm entfernt. Die illegalen Souvenir-Verkäufer flüchten sich mit ihren bunten Waren dorthin, wenn rund um das Wahrzeichen Kontrollen drohen. Zwei vertrocknete Rosen und ein Strauß weißer Blumen in einer Plastikhülle zeigen, dass die Menschen nicht vergessen sind, die vor 75 Jahren wenige Meter entfernt litten.
Lange war die französische Mitverantwortung für die größte Verhaftungsaktion von Juden ein Tabu, das erst Präsident Jacques Chirac am 53. Jahrestag brach. „Diese dunklen Stunden beschmutzen für immer unsere Geschichte und sind eine Beleidigung für unsere Vergangenheit und unsere Traditionen“, begann der Konservative am 16. Juli 1995 seine historische Rede. „Der kriminelle Irrsinn der Besatzer wurde von den Franzosen, dem französischen Staat unterstützt“, räumte er erstmals eine Mitschuld ein. „Frankreich, die Heimat der Aufklärung und der Menschenrechte, das Aufnahme- und Asylland, hat an diesem Tag das nicht wieder Gutzumachende begangen.“Ein Satz, der überfällig war.
Drei Jahre zuvor war mit François Mitterrand erstmals ein Präsident am Jahrestag der Razzia an den Ort gekommen, wo einst das Vél d’Hiv stand. Schon damals gab es Forderungen, dass der französische Staat sich zu dem Verbrechen bekennen solle. Doch Mitterrand wälzte in einem Interview die Verantwortung auf die mit den Nazis kollaborierende Regierung in Vichy ab, die in seinen Augen damals nicht Frankreich repräsentierte. Das tat für ihn ausschließlich die in London ansässige Exil-Regierung von Charles de Gaulle. „1940 gab es einen französischen Staat und das war das Regime von Vichy. Das war nicht die Republik.“Erst 20 Jahre später, zum 70. Jahrestag der Razzia, fand sein politischer Ziehsohn François Hollande die Worte, die Mitterrand damals fehlten. „Die Wahrheit ist, dass dieses Verbrechen in Frankreich von Frankreich begangen wurde.“
Diesem Bekenntnis verweigern sich die französischen Rechtsextremen allerdings bis heute. „Das waren die Verantwortlichen jener Zeit. Das war nicht Frankreich“, sagte Marine Le Pen im Präsidentschaftswahlkampf 2017 zu den Ereignissen vor 75 Jahren. Zwei kurze Sätze, die auf einen Schlag die wahre Gesinnung der Kandidatin des Front National enthüllten. Denn die Parteichefin hatte sich zwar nach außen hin von der antisemitischen Rhetorik ihres Vaters distanziert, aber dessen Gedankengut behalten. Erst im Frühjahr wurde Jean-Marie Le Pen erneut verurteilt, weil er die Gaskammern als „Detail der Geschichte“bezeichnet hatte.
Von Frankreich verraten
„Le Pen ist eine große Gefahr“, sagt Lichtsztejn-Montard. „Deshalb werde ich bis zum letzten Atemzug Zeugnis ablegen über das, was passiert ist.“Ihr war damals ebenso wie den anderen, meist aus Osteuropa eingewanderten Juden klar, dass die Täter Franzosen waren. „Wir hatten den Eindruck, dass Frankreich uns verraten hatte.“Manchmal habe sie deshalb bedauert, nach dem Krieg nicht nach Israel ausgewandert zu sein. Vor allem, wenn der Antisemitismus sich in ihrer Heimat zeigte, in der mit rund 500 000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinde Europas lebt. „Ein Teil der französischen Gesellschaft ist immer noch antisemitisch“, sagt die Mutter zweier Kinder und mehrfache Oma und Ur-Oma. Deshalb verlassen jedes Jahr mehrere Tausend französische Juden das Land und ziehen nach Israel. Doch für Frankreich ist es gut, dass Frauen wie Lichtsztejn-Montard geblieben sind, um die Ereignisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Eine Umfrage ergab 2012 zum 70. Jahrestag, dass 42 Prozent der Franzosen nicht wissen, was die Razzia des Wintervelodroms ist.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat am Sonntag im Beisein von Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu die Verantwortung seines Landes für die Massenverhaftung bekräftigt. „Es war Frankreich, das die Razzia organisierte und später die Deportation“, sagte Macron bei einer Gedenkveranstaltung. „Nicht ein einziger Deutscher“habe an der Organisation teilgenommen. Netanjahu bezeichnete die Einladung zu der Gedenkveranstaltung als eine „sehr, sehr starke Geste“. Sie beweise die tiefe Freundschaft zwischen Frankreich und Israel.