Lieber Goldie als Oldie
Martina Willing ist mit 57 Jahren die zweitälteste Teilnehmerin der Para-Leichtathletik-WM in London
LONDON (SID) - Martina Willing sitzt bestens gelaunt im Mannschaftshotel im Queen Elizabeth Olympic Park von London und ist vor Tatendrang kaum zu stoppen. „Bei mir gibt es keine normalen Ideen, es soll ja nicht langweilig werden“, erzählt die viermalige Weltmeisterin und dreimalige Paralympics-Siegerin.
Als der Begriff Abenteurerin fällt, nickt die blinde und querschnittsgelähmte Wurfspezialistin aus Brandenburg zustimmend. Fallschirmspringen, Tiefseetauchen – und die Ausritte auf dem Rücken der Friesenstute Walli von Masserberg. Für die 57-Jährige gibt es keine Grenzen, trotz der Schicksalsschläge in ihrem Leben. Vielleicht auch gerade deshalb. „Ich will zeigen, was machbar ist“, lautet einer ihrer Leitsprüche.
Bei der Para-Leichtathletik-WM möchte Willing am Montag im Londoner Olympiastadion erst einmal ihren Speerwurf-Titel von 2015 erfolgreich verteidigen. Es wäre die insgesamt 14. WM-Medaille der Heilpraktikerin seit 1998.
Dass sie die zweitälteste Athletin dieser Welttitelkämpfe hinter der 58 Jahre alten Japanerin Teruyo Tanaka ist, interessiert Willing nicht weiter. „Für mich ist das Alter nicht entscheidend“, sagt sie – und hat wie sooft einen lockeren Spruch auf Lager: „Ich bin quasi Ü23.“Das sonnige Gemüt half ihr auch in dunklen Stunden. Bereits mit einer schweren Sehstörung geboren, erblindete sie mit 21 Jahren komplett. Wenn Willing, die noch vier Geschwister hat, darüber spricht, darf die Portion Humor nicht fehlen: „Als Kind hatte ich beim Verstecken das Nachsehen.“
Von Anfang an war das Gesichtsfeld eingeschränkt. Irgendwann war dann die Mitte weg, sie musste „durch Kleckse“durchgucken. Ausgerechnet bei einem Wettkampf bei den Winter-Paralympics in Lillehammer 1994 erfolgte dann ein weiterer Einschnitt in ihrem Leben. Bei einem Sturz im Langlaufrennen verletzte sich die Allrounderin vom BPRSV Cottbus nicht nur das Knie, sondern auch die Wirbelsäule.
Grenzenlose Abenteuerlust
Was von den Medizinern nicht bemerkt wurde. Und weil sie Willing schnell am Bein operieren wollten, setzten sie eine folgenschwere Spritze. „Danach war dann das, was vorher an Rückenmark noch funktionstüchtig war, auch weg.“Was bedeutete: Querschnittlähmung. Doch die Rio-Zweite, die als Fachberaterin für physikalische Gefäßtherapie arbeitet, zerbrach nicht an ihrem doppelten Schicksal. Sie wuchs an den neuen Zielen.
Ihr Hunger auf Abenteuer kennt keine Grenzen. Wenn Willing ihre Leichtathletik-Karriere beendet, steht einer Laufbahn als Reiterin nichts im Weg. „Man könnte ja mal gucken, wie weit man da kommt“, meinte die 57-Jährige.
Ob sie nicht eine Biografie schreiben wolle, wurde Willing schon oft gefragt. „Keine Zeit“, lautete stets die Antwort. Nachdem das Fallschirmspringen („Das war ein geiles Gefühl“) vor zwei Jahren erprobt wurde, will sich Willing endlich auch den Traum vom Tiefseetauchen erfüllen.
Ziel ist es, physisch und mental in Schwung zu bleiben. „Wenn ich längere Zeit nichts mache“, sagt Willing, „dann fahre ich Rollstuhl wie ein Anfänger.“Krank oder verletzt zu sein, das sei „Gift“für sie.
Schon vor dem Ende der WM steht für die Brandenburgerin der nächste Termin an: Am kommenden Wochenende ist sie beim Sportkongress in Leipzig. Wie auch der ehemalige Skispringer Jens Weißflog oder Ex-Boxer Axel Schulz. „Mich kennen hoffentlich auch ein paar Leute“, scherzte Willing. Mit Sicherheit. Egal, ob mit einer London-Medaille oder ohne.