Kein „kleiner Italiener“
Vor gut 60 Jahren kamen die ersten Gastarbeiter nach Baden-Württemberg – Ein Italiener hat darüber ein Buch geschrieben
SINDELFINGEN (lsw) - Bernardino Di Croce war 17 Jahre alt, als er zum ersten Mal nach Deutschland kam. Das war 1960 in Geislingen an der Steige. Er arbeitete auf dem Bau, sein Heimatdorf in den süditalienischen Abruzzen war mehr als 1000 Kilometer entfernt. „Es war schrecklich, es hat mir überhaupt nicht gefallen“, sagt Di Croce heute. Zwei Mark Stundenlohn, schlafen in Baracken, „diese entsetzliche Kälte“– und die Mädchen wollten auch nicht so recht.
Heute sitzt der 74-Jährige auf einem Ledersofa im eigenen Häuschen am Stadtrand von Sindelfingen bei Stuttgart, im Fernsehen läuft eine italienische Nachrichtensendung, auf dem Tisch steht ein Rotwein aus der Toskana. Neben ihm sitzt seine Ehefrau Hilde, die aus Büsum an der Nordsee stammt – und gerade Enkel gehütet hat. Der Mann aus den Abruzzen sagt: „Ich fühle mich in Deutschland besser aufgehoben.“
Di Croce weiß, dass er unter den Millionen italienischer Arbeitsimmigranten in Deutschland eher ein Sonderfall ist – ein Erfolgsmodell. Über das Schicksal der Gastarbeiter im Ländle hat er jetzt ein Buch geschrieben. „Die Arbeit jenseits der Heimat – 60 Jahre Italiener in BadenWürttemberg“(von Loeper Literaturverlag) heißt es.
Heute leben unter den etwa 10,7 Millionen Menschen im Südwesten mehr als 180 000 Italiener, wie aus Daten des Statistischen Landesamts hervorgeht. Damit stellen sie die größte Bevölkerungsgruppe in Baden-Württemberg aus den EUStaaten. Wie viele einstige Gastarbeiter darunter sind, können die Statistiker allerdings nicht sagen. Einige hätten inzwischen wohl die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen, hieß es. Di Croce ist nach eigenen Angaben Italiener geblieben.
Bilder aus früheren Tagen erstehen in seinem Buch wieder auf: Da sind die kleinen dunkelhaarigen Männer, die sich mit riesigen Koffern und sperrigen Pappkartons durch das Gedränge deutscher Bahnhöfe schlängeln. Da sind die Holzbaracken, in denen die Südländer untergebracht waren, dicht gedrängt stehen doppelstöckige Betten – und sonderlich nett seien die meisten Deutschen auch nicht gewesen, erinnert sich der Autor. „Itakker“und „Spaghettifresser“seien noch die harmloseren Beschimpfungen gewesen. Und das sollte das Paradies sein, von dem man in Italien geträumt hatte? Es war ein anderes Deutschland damals. Pizza gab es nicht, niemand kochte mit Olivenöl, Konrad Adenauer war Bundeskanzler. Und ein junges Mädchen namens Conny Frobess sang das Lied „Zwei kleine Italiener“. Ich habe das Lied nie gemocht, sagt Di Croce. „Ich wollte nicht der nette, kleine Italiener sein.“
Das Buch ist kein reiner Rückblick, sondern es geht auch um das Thema Integration. Eher eine Verheißung als eine Beschreibung der Realität, wie Di Croce meint. Integration bedeute für ihn: Arbeit, Einkommen, Bildung. Nur die wenigsten Gastarbeiter hätten das auf Dauer erreicht.
Auch sein eigener Weg war verschlungen. Zwar lernte er schnell Deutsch, machte Karriere bei der Gewerkschaft, wurde Ausländersekretär bei der IG Metall in Stuttgart, wie er erzählt. „Ich hatte Lust auf Deutschland“, sagt er. Dennoch führte ihn sein Weg zeitweise aus Deutschland weg – bis nach Kanada, wo die beiden Kinder zur Welt kamen. Es gab sogar einen Versuch zur Rückkehr, 1984 ging die Familie in sein Heimatdorf Gissi bei Chieti in den südlichen Abruzzen, die Adria einen Steinwurf entfernt. Ein Traum eigentlich.
Doch der Traum funktionierte nicht, blickt Di Croce zurück. „Plötzlich war ich für meine alten Freunde der „panzer tedesco“geworden“– der deutsche Panzer, der nur Arbeit und Pflicht, aber keine Lebenslust und keine Gefühle kennt.
Die Familie entschied: zurück nach Deutschland. „Ich bin kein typischer Italiener mehr“, sagt der Mann in seinem Eigentumshäuschen. So recht kann er es selbst nicht erklären. In Italien gebe es einfach mehr Chaos, mehr Stress. „Die Deutschen halten sich an die Regeln, das macht vieles einfacher“, sagt er. Was bleibt „ist ein bisschen Sehnsucht“nach Italien.